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Geister

Sie tranken, sie lachten und sangen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie anfingen, die Kellnerinnen mit Kaugummi und Zigaretten zu locken. Die Moral, die die jungen Mädchen ihren Müttern zur Liebe aufrecht hielten, würde noch weniger lange andauern.  Lena presste die Lippen aufeinander. Scham war Mangelware in diesen Tagen, das wusste sie. Aber es waren auch nicht die Kellnerinnen und ihre Blicke aus kohlegeschwärzten Augen, die Lena das Herz zum Kochen brachten – es waren die Soldaten. Fühlten sie sich gar nicht schmutzig, nachdem sie wochenlang in den Eingeweiden ihrer Stadt herumgewühlt hatten? Sie plündern die Lilienstraße, hatte ihre Großmutter gesagt, und es Lena verboten, ihre Schätze in Sicherheit zu bringen. Tagelang war sie um das Viertel herumgeschlichen und hatte die Männer dabei beobachtet, wie sie alles mitnahmen, was im Krieg herrenlos geworden war. In manchen Fällen, das wusste Lena, versteckten die wahren Herren des Diebesgutes sich nur ein paar Häuser weiter. Doch niemand von ihnen war auf die Idee gekommen, ihr Hab und Gut zurückzufordern. Sie hielten die Köpfe gesenkt und manchmal halfen sie den Soldaten sogar dabei, die schweren Möbelstücke auf die Jeeps zu laden. Es war, als hätten sie kollektiv das Recht eingebüßt, jemand zu sein in dieser Welt. Jemand mit Besitz und mit Plänen für eine Zukunft, von der Lena selbst nicht wusste, ob sie ihnen zustand. Sie fand ihre Schätze achtlos weggeworfen in der Wohnung im ersten Stock, die schon im ersten Kriegsjahr ausgebombt und vergessen worden war. Die Wohnung hatte Familie Frenzel gehört und Frau Frenzels Kräutergarten hatte, in jahrelanger Abwesenheit von Frau Frenzels Küchenschere, ein zweites Leben als Urwald begonnen. Lena fand ihr Lieblingsbuch zwischen Salbei und einem Rosmarin-Bäumchen. Es war eine arg ramponierte Ausgabe von Stevensons „Schatzinsel“ und Lena wusste, dass sie Herrn Frenzel Senior gehört hatte. Sie wusste auch, dass Herr Frenzel Senior seiner kleiner Tochter Matilda jeden Abend daraus vorgelesen hatte. Matilda, mit ihren großen grünen Augen und den langen roten Haare war zwei Jahre nach Kriegsbeginn an Tuberkulose gestorben.