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Familie

Ich liebe dich. Drei so kleine Worte. Wie leicht es gewesen wäre, es ihr am Morgen noch einmal zu sagen: Ich liebe dich. Es tut mir Leid. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihr verweintes Gesicht. Wahrscheinlich würde sie jetzt nie wieder ein anderes Gesicht haben. Nicht nach dem, was passiert war. Freundliche graue Augen, ein Lächeln. Dann war alles schwarz geworden. Der Geruch von Holz und frischer Farbe. In den ersten Tagen war sie sicher gewesen, dass sie sterben werde. Sie hatten kein Geld, es hatte nicht einmal mehr für die Miete gereicht. Deshalb war ja der Student mit den runden Brillengläsern in ihr Zimmer und sie zu ihrem kleinen Bruder in den Raum am Ende des Flurs gezogen, in dem nachts die Leuchtreklamen von gegenüber die Decke zierten. Ich hasse dich, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt. Auch drei kleine Worte. Doch es war niemand gekommen, um ihr ein Ohr abzuschneiden oder sie mit der Tageszeitung zu fotografieren. Niemand war gekommen, um ihr zu sagen, warum sie hier war oder wo hier überhaupt war. Es war überhaupt niemand gekommen. Aber es waren schon andere da gewesen. Sie strich über die Falten ihres steifen Kleides. Mitternachtsblau. Die anderen trugen identische Kleider, aber in anderen Farben. Sofia in Sonnengelb, Esther in Smaragdgrün und Isabella in Lavendel. Sie hatte nicht alle Namen am ersten Tag erfahren. Anfangs hatten die Mädchen keine Notiz von ihr genommen. Jede von ihnen lebte nach eigenen, ihr unbekannten Regeln, sie sprachen auch miteinander selten. Dass das seltsame Haus keinen Ausgang hatte, war ihr schnell klar geworden. Und das jedes der siebzehn Zimmer aussah wie das, in dem sie zum ersten Mal die Augen aufgetan hatte, ebenfalls. Jeder der siebzehn Räume hatte Fenster und keines der Fenster war vergittert. Aber hinter jedem der Fenster lag nur ein anderes der siebzehn Zimmer. Dass das physikalisch nicht möglich war, wusste sie. Doch was half es ihr? Am fünften Tag hatten sie angefangen, mit ihr zu reden. „Nicht alle, die kommen, bleiben auch“, hatte Isabella erklärt. „Manchmal kommt er und nimmt sie wieder fort. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert.“ „Natürlich wissen wir das“ hatte Sofia geschnappt und sich das flachsblonde Haar aus der Stirn gestrichen. „Sie sind tot.“ „Beachte sie gar nicht“, hatte Esther gesagt. „Sie war schon bösartig, bevor wir hier gelandet sind.“ Esther und Sofia hatte er, genau wie sie, auf dem Weg zur Schule ins Auto gezerrt. Isabella war auf dem Heimweg von einer Freundin gewesen, als die grauen Augen sie erspäht hatten. Mittlerweile kannte sie jede ihrer Geschichten – alle bis auf eine: Die Geschichte des Mädchens am Fenster. Das Mädchen, das ein Glas mehr Milch bekam als die anderen und manchmal sogar eine zweite Schale Haferbrei. „Ihr Name ist Agnes“, hatte Isabella geflüstert. „Sie ist die einzige, mit der er manchmal redet. Er sitzt dann bei ihr und streichelt ihre Hand. Erzählt ihr, dass sie hier sicher ist und dass sie niemand mehr trennen wird. Und er fragt sie, ob sie nicht glücklich ist, weil sie sich doch immer schon Schwestern gewünscht hat.“