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Freund

Theodora hatte den kleinen Raum am Ende der Wendeltreppe entdeckt, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Eigentlich hatte sie einen Ort gesucht, an den die Stimmen ihrer Eltern sie nicht verfolgen konnten. Theodora mochte ihre Eltern. Aber wenn sie die wütenden Gesichter bekamen, dann war sie lieber woanders. Ihre Mutter bekam nach dem wütenden Gesicht oft das traurige Gesicht. Dann nahm sie Theodora in die Arme und erzählte ihr von Paris. Theodoras Mutter sprach oft von Paris, denn sie hatte einmal dort gelebt und ihre Familie lebte dort noch immer. Nur sie lebten nicht dort, weil Theodoras Vater das Haus seiner Familie nicht verlassen wollte. „Die Perrywinkles leben seit acht Generationen auf diesem Land und ich werde sicher nicht derjenige sein, der es aufgibt“, hörte Theodora ihn manchmal sagen, wenn beide wieder die wütenden Gesichter hatten. „Dann wirst du einmal genauso bitterarm und verrückt sterben wie jeder Perrywinkle vor dir.“ Verrückt war ein Wort, das Theodoras Mutter oft sagte. Sie sagte es nicht nur über Theodoras Vater, sondern auch über das Haus. Es war verrückt, dass das Haus 28 Zimmer, aber keine Zentralheizung besaß. Es war verrückt, dass zwei der rückwärtigen Fenster im dritten Stockwerk zugemauert waren, und dass es im ersten Stock jeden Dienstag nach Veilchen duftete, obwohl niemals jemand Veilchen kaufte. Theodoras Mutter fand es verrückt, dass das Grundstück so groß war, dass man es nicht innerhalb eines Tages ablaufen konnte, und dass es Räume gab, die keiner der Schlüssel an dem schweren Schlüsselbund, den Theodoras Vater stets bei sich trug, aufschließen konnte. Einmal hatte sie sogar Theodora verrückt genannt, aber sie sprachen nicht mehr über diesen Tag. Manchmal hätte Theodora ihrer Mutter gerne von ihrem Dachboden erzählt, doch im letzten Moment verließ sie immer der Mut. Vielleicht, weil sie wollte, dass es ihr Geheimnis blieb. Ihres und das des Hauses. Vielleicht auch, weil der Dachboden ihr einziger Freund war. Zwei Jahre lang hatte sie dort oben gelesen, Teepartys für ihre Kuscheltiere gefeiert und so getan, als seien die dumpfen Stimmen, die von unten zu ihr heraufdrangen, die Rufe von Seeleuten. Und sie saß oben im Kuckucksnest. Irgendwann war sie zu alt für Teepartys geworden. Das war der Tag gewesen, an dem sie die Spiegel entdeckt hatte. Sie hingen in der hintersten Ecke des Dachbodens in geschnörkelten Goldrahmen. Theodoras Vater hatte ihr erzählt, dass sie seiner Urgroßtante Sofie gehört hatten. Theodoras Mutter hatte gesagt, dass Urgroßtante Sofie verrückt gewesen sei. Theodora fand aber, dass Urgroßtante Sofie gar nicht verrückt aussah. Ein bisschen traurig vielleicht, wie sie Theodora tagein, tagaus aus ihrem Spiegel heraus zulächelte. Damals hatte Theodora noch nicht gewusst, dass sie die Spiegel besuchen konnte. Das hatte sie erst von Hanno erfahren. Hanno war am gleichen Tag aufgetaucht wie die Verwandten ihres Vaters aus London, die seit drei Wochen im ersten Stockwerk wohnten, das jeden Dienstag nach Veilchen duftete. Hanno war älter als sie. Aber sie wusste, dass sie verwandt waren, weil er die gleichen Augen hatte wie sie und wie Urgroßtante Sofie. Theodora fragte sich, ob Hannos Eltern auch manchmal wütende Gesichter bekamen, denn wann immer sie auf ihren Dachboden stieg, war er bereits da. Und seitdem sie gemeinsam auf dem Dachboden waren, kamen immer mehr Leute in die Spiegel. Sie alle hatten Augen wie sie und wie Hanno und wie Urgroßtante Sofie und sie alle sahen ein bisschen traurig aus. „Weil sie einsam sind“, sagte Hanno immer, wenn Theodora ihn danach fragte. „Aber sie wären nicht mehr so einsam, wenn du zu ihnen gehst.“ Auf die Frage, ob sie ihre Mutter mitnehmen könne, hatte er den Kopf geschüttelt. „Sie ist keine Perrywinkle. Aber wenn sie sieht, dass ihre Tochter Teil des Hauses geworden ist, dann will sie sicher nicht mehr zurück nach Paris.“