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Hunger

An manchen Tagen wusste sie schon vor dem Aufstehen, dass sie es nicht schaffen würde. Es waren diese Tage, von denen sie später ihrer Therapeutin erzählte. Und die stellte dann Fragen. War der Tag besonders stressig gewesen? Objektiv betrachtet nicht. War etwas Besonderes passiert, dass sie aus der Bahn geworfen hatte? Nichts, was normale Menschen aus der Bahn werfen sollte. War sie vielleicht wegen etwas besorgt gewesen? Nicht mehr als sonst. Aber wie hätte sie es auch beschreiben sollen, dieses seltsame Kribbeln unter der Haut. Das Gefühl, mit dem sich kurz vor einem Gewitter die feinen Härchen auf den Armen aufstellten. Das Wissen, dass man es nicht schaffen würde. Und das gleichzeitige Wissen, dass es nichts löste. Sie wusste, dass sich das warme Gefühl von früher, das sie vor dem Fernseher mit ihrer Mutter geteilt und das für ein paar Stunden den Albtraum ihres Teenagerdaseins gelähmt hatte, schon seit Jahren nicht mehr einstellte. Sie hatte es vergeblich gesucht: am Boden jeder Chipstüte und jeder Kekspackung und jeder Eisbox, die sie jemals gekauft hatte. Es blieb verschwunden. Aber die Erinnerung war geblieben. Die Erinnerung an einen Moment der Ruhe, an einen Augenblick, für den die Zeit stillstand. In dem niemand sie hetzte, etwas von ihr erwartete, ihr erzählte, wie oder wer sie sei. Ein Moment, in dem sie auschecken konnte: aus ihrem Leben. Ein Moment, in dem sie nicht sie selbst sein musste. Wenn sie aß, sahen die anderen das Essen. Später sahen sie das Fett. Vielleicht war das der Grund: Solange sie aß, konnte niemand sehen, wer sie wirklich war. Und gleichzeitig konnte niemand sie mehr übersehen.