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Nostalgie

Sie saß stets mit dem Rücken zu ihnen. Und sie nahm jeden Tag ein anderes Buch mit zu der Bank, auf der sie die erste Panikattacke ihres Lebens niedergekämpft hatte. An Büchern herrschte kein Mangel, denn es gab niemanden mehr, der wartete. Manchmal, wenn die Buchstaben vor ihren Augen zu tanzen begannen, konnte sie sie hören: Die Stimmen von früher. Stimmen, die knisterten wie das Samtpapier in den tiefblauen Prada-Taschen, die die Touristinnen trugen. Stimmen, die kratzten wie die Bettelteller, die die Männer mit den zerfurchten Wangen über den Boden schoben. Stimmen, die ziellos waren wie die Studenten, die sich treiben ließen, während andere rannten in der festen Überzeugung, ein Ziel zu haben. Jeden Tag zur Mittagszeit saß sie auf ihrer Bank zwischen Efeu und Buschwindröschen, die im letzten Sommer die Spitze des Nordturms erreicht hatten. Wenn ihre Uhr den Geist aufgab, würde sie die Tageszeit schätzen müssen. Anfangs hatte sie sich gefragt, wie es passiert war. Und warum es ihr nicht passiert war. Wie immer, wenn sich der Tag jährte, an dem die Sonne über einem menschenleeren Wien aufgegangen war, hatte sie sich auch dieses Jahr vorgenommen, in den Dom zu gehen. Und wie in jedem Jahr würde sie es nicht tun. Manchmal redete sie sich ein, dass sie die alte Kirche nicht aus ihrem Dornröschenschlaf wecken wollte. In Wahrheit aber wusste sie nur nicht, worum sie bitten sollte.