Die Welt auf dem Dach

Als der Grundstein für das Haus in der Himmelpforte 23 gelegt wurde, war das alte Europa gerade damit beschäftigt, in die schmutzigen Gassen seiner eigenen Realität hinabzusteigen. Nachdem das siebte Stockwerk vollendet war und die Nachbarschaft neugierig zu den goldenen Schnörkeln über dem Giebel emporblickte, sah die große Eingangshalle mit den Wänden aus hellrotem Marmor noch ein paar Jahre lang elegante Damen mit breiten Hüten und spitzen Regenschirmen ein- und ausgehen, während in den hellen Wohnungen mit den weißen Flügeltüren rauchende Herren mit steifen Kragen beieinandersaßen und gewichtige Mienen zu gewichtigen Dingen machten. Als der 28. Juli den Trauermarsch für ein ganzes Jahrhundert bließ, klammerten die Damen mit den gerüschten Schirmen sich an die Arme ihrer Herren und sie flohen mit wehenden Kleidern und fliegenden Hüten durch das große Portal, das noch heute stumm auf seine Nachbarn blickt. Nachdem die Leere ins Himmelpfortenhaus eingezogen war, begann hier und dort bereits ein wenig Herrlichkeit von den Wänden zu blättern und über jene Kommoden, Recamieren und Schreibtische, die nicht eines Nachts von starken Händen aus den großen Wohnungen geschleppt worden waren, legte sich eine dicke Staubschicht.

Vier Jahre später, als die alte Welt verdutzt aus ihren Trümmern spähte, schlurften neue Füße in abgetragenen Schuhen durch die Marmorhalle und zogen mit Kind und Kegel in die eleganten Salons und Rauchzimmer jener Zeit, als die Himmelpforte noch zu den ersten Adressen der Stadt gezählt hatte. Schwielige Hände verrückten schwere Möbel, um Platz für noch mehr Menschen zu schaffen, und junge Mütter mit schmalen Gesichtern klopften sich den Staub des letzten Jahrhunderts aus den Kleidern. So war, während Europa schüchtern aufatmete, im Haus in der Himmelpforte wieder Leben eingekehrt – auch wenn die neuen Bewohner in viele Räume bereits einen kleinen Tod getragen hatten. Als die Jahre vergingen und sich hier und da bereits feine Risse durch den roten Marmor der Eingangshalle zogen, herrschte vor den Toren wieder reges Treiben und Herren mit runden Hüten und Taschenuhren standen auf der Straße zusammen, tauschten wichtige Meinungen zu wichtigen Themen und grüßten Damen in schmalen Kleidern und engen Mänteln. An einem Märztag, dem noch alle Blätter fehlten, stand im vierten Stockwerk der Himmelpforte ein kleiner Junge mit schmutzigen Knien an einem der Fenster und beobachtete, wie eine lange Reihe junger Männer im Gleichschritt an seinem Haus vorbeimarschierte. Obwohl seine Mutter es verboten hatte, kletterte er auf die Fensterbank und folgte mit runden Augen den hin- und herschwenkenden Fahnen, während er mit seiner rechten Hand, die einen rostroten Nagel hielt, ein kleines Zeichen in die schmutzigweiße Fensterrahmung ritzte.

Der Tag, an dem der erste Luftangriff den Giebel der Himmelpforte traf und den größten Teil der goldenen Lettern ins Ungewisse riss, hatte sich am Morgen hellblau über den Himmel gespannt und nichts von dem Schrecken erahnen lassen, der der alten Stadt noch in die Glieder fahren sollte. Ein paar Jahre später stand ein Soldat mit Kindergesicht unter dem runden Helm an einem der Fenster im Himmelpfortenhaus und hielt die staubigen Vorhänge umklammert, während er mit gehetztem Blick nach einem Zeichen jener Fahnen suchte, vor denen er geflohen war. Er blieb ganze fünf Wochen und lebte von dem, was die ehemaligen Bewohner zurückgelassen hatten, während er sich Tag für Tag hinter den Vorhängen verbarg, die Straße beobachtete und mit dem linken Zeigefinger gedankenverloren ein kleines Symbol nachzeichnete, das jemand vor einer Ewigkeit, so schien es ihm, in das schüttere Holz geritzt hatte. Als ein müder Septembermorgen schließlich das Kriegsende brachte, hatte das Himmelpfortenhaus viel von seiner einstigen Pracht verloren und in dem grünen Schieferdach klafften tiefe Wunden, die große Teile des siebten Stockwerks freilegten.

Die Wunden sind heute verheilt. Und das grüne Schieferdach, das an einer versteckten Stelle die Initialen eines jungen Wanderhandwerkers mit Locken und großen Träumen getragen hatte, war in den 70er Jahren Modernisierungsmaßnahmen zum Opfer gefallen.

Wenn ein unbeteiligter Spaziergänger an einem blauen Samstagnachmittag von der Apfelallee in die Himmelpforte abbiegen würde, mit federnden Schritten an der antiquarischen Buchhandlung vorbei, fast bis zum Ende der Straße ginge und dort für einen Augenblick innehielte, so stünde er vor jenem Blumengeschäft, dem bei Kriegsende die Fensterscheiben gefehlt hatten und über dessen Eingang heute violette Clematis wachsen. Wenn sein Blick, bevor er sich umdrehte oder weiter einem unbekannten Ziel entgegeneilte, zufällig auf die andere Straßenseite fiele, so würde er sehen, was die Zeit von dem Haus mit den sieben Stockwerken, der roten Marmorhalle und den weißen Flügeltüren übriggelassen hatte: Auch heute überragt das Himmelpfortenhaus seine schlichten Nachbarn um einige Meter. Doch anders als in jungen Jahren, als es stolz die kalkweißen Erker zeigte, sieht es heute fast so aus, als wolle es sich in seinem Grauschleier verstecken: Über die Eingangshalle, in der jetzt Kinderwagen und kaputte Fahrräder stehen, gelangt der neugierige Besucher zur alten Wendeltreppe, deren Stufen von ungezählten Füßen ausgetreten sind, und auf die ab und an weißer Putz aus der Decke in luftiger Höhe rieselt. Die äußeren Fensterrahmen tragen nur noch die Erinnerung an weißen Lack, die goldenen Lettern über dem Giebel sind niemals ersetzt worden und seit etwa zwölf Jahren kriecht eine dreidimensionale gelbe Schnecke auf der rechten Seite neben dem Portal die Fassade empor. Doch obwohl sein einstiger Glanz nur hier und da noch von einem besonders aufmerksamen Beobachter zu erhaschen ist, hat das Himmelpfortenhaus noch immer etwas, das die Passanten verstohlen an ihm emporblicken lässt.

Das breite Flachdach, das in den 70er Jahren die Nachfolge der alten Schieferschindeln angetreten hatte, war kurze Zeit später begrünt worden und Ende der 80er Jahre hatte hier der erste Garten über den Dächern der Stadt gelegen. Seine heutige Form verdankt der Himmelpfortengarten einer früh verwitweten Künstlerin, die vor ungefähr 20 Jahren in die größte der drei Wohnungen im siebten Stockwerk eingezogen war und die Grünfläche über ihrem Kopf, die zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als eine natürliche Wärmedämmung gewesen war, zu ihrem letzten großen Projekt erklärt hatte. In den kommenden Jahren hatten sie, ihre Freunde und ihre Enkeltochter bergeweise schwarzen Mutterboden, helle Bachkiesel und Kübel um Kübel mit grünen Gräsern, spitzblättrigen Oleander- und Lorbeersträuchern, asiatischem Hibiskus, zarten Zitrusbäumen und blühendem Rosmarin über die schmale Holztreppe neben ihrer Wohnungstür aufs Dach getragen. Sie hatten Beete, Wege und kleine Buchten angelegt, die größeren Büsche als Sichtschutz an die Dachränder gepflanzt und große Terracottatöpfe mit duftenden Kräutern und weißem Steinkraut befüllt. Zu ihrem 70. Geburtstag hatten ihre drei Söhne auf der Westseite des Gartens eine große Pergola mit geschwungenem Dach errichtet, an deren Ecken sie Goldregen, Geißblatt und Lampionblumen pflanzte. An dem Tag, an dem die alte Frau ihre Wohnung verlassen musste, weil sie die vielen Treppen eigentlich schon seit Jahren nicht mehr steigen konnte, kam ihre Enkelin mit dem langen zimtfarbenen Zopf ein letztes Mal über die schmale Holztreppe und pflanzte den kleinen Lavendelstrauch, den sie ihrer Großmutter mitgebracht hatte, direkt neben die Dachluke in eines der Beete. Bevor sie das Haus verließ, hängte sie auf Geheiß der alten Dame einen großen Zettel an die Innenseite der schweren Eingangstür: „Zum Paradies geht´s nach oben!“

Es dauerte eine ganze Weile, bis die anderen Bewohner der Himmelpforte bemerkten, dass ihnen auf ihren Wegen durch das Haus keine alten Leute mehr begegneten, die Schneeheide und Zwergflieder in den Armen trugen. So waren in der Welt auf dem Dach bereits zweimal zwei Jahreszeiten vergangen, bis man sich in allen Stockwerken sicher war, dass die sonderbare alte Frau von ganz oben nicht mehr unter ihnen weilte. Als die Dachluke das erste Mal wieder geöffnet wurde, nahm der kleine Lavendelstrauch, den das Mädchen mit den Zimthaaren gepflanzt hatte, bereits die Hälfte des Weges ein.

Es war ein Mittwochabend, als er etwa mittig auf der schmalen Holztreppe stand, die Dachluke soeben einen Spaltbreit geöffnet hatte und mit nervös zusammengekniffenen Lippen auf ein Lebenszeichen lauschte. Als es eine ewig lange Minute vollkommen ruhig blieb und nur ab und zu ein leises Pfeifen zu hören war, weil der Herbstwind an den Scharnieren spielte, atmete er tief durch, öffnete die Luke weiter und steckte zögernd den Kopf in den Garten. Da er niemanden sehen konnte, kletterte er nach oben, wobei ihn seine schlacksigen Beine fast zu Fall brachten, setzte umständlich die Füße auf den Weg und blieb, einen Blumentopf in der linken Hand, mitten im Lavendel stehen. Er spürte, während er sich staunend umsah und den Blick über Oleander- und Wacholderbüsche gleiten ließ, wie sein Herz einen kleinen Hüpfer tat. Dummes Ding! dachte er, und musste trotzdem lächeln, als er sich niederkniete und mit langen dünnen Fingern durch den wogenden Lavendel fuhr. Er hatte den Besuch hier oben seit Jahren geplant. Aber er war jedes Mal nur bis zur Holztreppe gekommen und bei dem leisesten Geräusch auf direktem Wege wieder in seiner Wohnung verschwunden. Dabei war es ja nicht so, dass er die Menschen nicht mochte. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte. Und da er jeden Morgen um sieben Uhr, wenn er gerade nach seinem Schlüsselbund griff und kurz darauf das Haus verließ, Schritte an seiner Wohnungstür vorbei- und in Richtung des letzten Stockwerks schlurfen hörte, war über die Jahre in ihm die Vorstellung gereift, dass die gesamte Wohngemeinschaft sich tagtäglich im Dachgarten der alten Dame versammelte. Und das waren ihm eindeutig zu viele Menschen auf einmal. Da das vertraute Schlurfgeräusch, obwohl er jeweils eine geschlagene Viertelstunde darauf gewartet hatte, seit zwei Tagen aber nicht mehr zu hören gewesen war, hatte er die Chance genutzt, den Dachgarten zur Abwechslung einmal leer vorzufinden. Er seufzte und blickte auf die kümmerliche Orchidee in seiner Hand, die er in Liebe ertränkt hatte, und für die er jetzt einen Platz zur Erholung suchte. Als er zwischen Daumen und   Zeigefinger gerade behutsam ein totes Blatt von dem dünnen Stengel knipste, erstarrte er plötzlich. Was war das für ein Geräusch? Er blickte hinter sich auf die Dachluke, die er nicht ganz geschlossen hatte, und wartete darauf, das knarzende Scharren noch einmal zu hören. Doch es blieb ruhig. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Jetzt bilde ich mir schon Nachbarn ein, die mich belauern. Er schüttelte schuldbewusst den Kopf, während er vorsichtige Schritte im weißen Kies tat. Ein normaler Mensch würde sowieso einfach heraufkommen, selbst wenn er wüsste, dass schon jemand hier ist. … Ich bin der einzige, der sich vor seinen Nachbarn fürchtet. Ein normaler Mensch hätte auch nicht ein ganzes Jahr gebraucht, um hier herauf zu kommen. Ob die anderen den Zettel überhaupt gelesen haben? Sicher nicht. Normale Menschen lasen so etwas nicht – und sie verstanden es auch nicht. …. Zum Paradies geht´s nach oben … – Sowas, lilafarbene Lupinen! Während er dem Weg folgte, der hier und da von Efeu und Gräsern mit weichem Flaum überwachsen war, schob er mit schlechtem Gewissen und teuren italienischen Schuhen das Laub vom Vorjahr zur Seite. Man sah dem Garten an, dass sich lange niemand um ihn gekümmert hatte. Das hätte natürlich gehen können. Wer weiß das schon? Wenn ich was gesagt … Sie hätte sich vielleicht gefreut. Und diese Ruhe! Hier kann ich an etwas anderes denken – Übrigens muss ich in den nächsten Wochen wohl früher los. Motorradsaison. Er blieb stehen, seufzte und kratzte sich am stoppeligen Kinn. Er hatte die Pergola erreicht, die sich zur Rechten des Weges wie ein Dach aus gelben und weißen Blüten über eine Rasenfläche spannte, die von weichem Moos durchsetzt war, und an deren hinterem Ende satt organgefarbene Lampions wuchsen. Der Besucher betrachtete die Pergola mit prüfendem Blick, ging vorsichtig einmal um sie herum und blieb wieder stehen. Hinter dem Blumenmeer, fast am Rande des Dachgartens, reichten sich Oleander und Zitronenbäume die Zweige und schirmten das achte Stockwerk der Himmelpforte, wie die alte Künstlerin ihren Garten stets genannt hatte, gegen die neugierigen Blicke der Nachbarn ab. Der Orchideenfreund trat mit einem langen Schritt ins Innere der Pergola und prüfte mit der Hand vor dem Gesicht, wieviel Sonne auf die flaumige Rasenfläche fiel. „Sie verbrennen in der Sonne und vergehen im Schatten …“, murmelte er, und dachte mit Unbehagen an die vielen bunten Kärtchen, die er bereits aus verwaisten Töpfen gefischt hatte. Er liebte die zarten Gewächse – nur war er leider nie besonders gut darin gewesen, sie am Leben zu halten. Zufrieden ließ er die Hand sinken und nickte der kleinen Pflanze aufmunternd zu. Nur am Abend ein bisschen, das wird gehen. Und wenn es kalt wird … ich kann sie zurückholen. Heute ging es ja auch .. Kein Grund, dass es morgen anders – und sowieso! Mein Recht! Ein normaler Mensch fragt nicht. Ein normaler Mensch tut, was er will. …. Der Kollege gestern – dreimal Anpiepsen! Dreimal! Allerdings. Vielleicht hat es doch noch ein anderer gemerkt. Und wenn ich morgen heraufkomme – nein. Er nickte ein paar Mal heftig, als wolle er sich Mut zusprechen, dann sah er sich nach einer geeigneten Stelle um. Als sein Blick auf einen längsseits geplatzten Terracottatopf fiel, dessen Heidekraut bereits an der Pergola emporkletterte, kippte er die übrig gebliebende Erde in eines der angrenzenden Beete, stellte den Topf umgekehrt auf den Rasen und setzte seine kleine Orchidee vorsichtig darauf ab. Nachdem er der Pflanze versprochen hatte, dass er sie täglich besuchen werde, erkundete er den Rest des Gartens und stellte erstaunt fest, dass die Aussicht keineswegs auf allen Seiten von dichten Sträuchern und Bäumen verdeckt war, die zu Zeiten der alten Dame noch hüfthoch gewesen sein mussten: Da das alte Haus von oben aussah wie ein dickes „L“, der Weg zur kurzen Seite jedoch zur Hälfte durch einen gewaltigen Schornsteinschacht hinter der Dachluke versperrt war, konnte der Orchideenfreund den kleinen Obstgarten erst sehen, als er dem Weg um die Dachluke herum gefolgt und unter den hängenden Zweigen einer kleinen Silberweide hindurchgetaucht war: Hier, auf der Seite, die der Himmelpforte abgewandt war, gab es keine Wege aus weißen Bachkieseln: Ein schmaler Trampelpfad, der erstaunlicherweise noch nicht überwachsen war, schlängelte sich zwischen windschiefen Apfelbäumchen, Heidelbeeren und Stachelbeersträuchern hindurch und das hohe Gras war mit allerlei Küchenkräutern durchsetzt. Der Orchideenfreund, dessen Mutter immer einen Kräutergarten gehabt hatte, konnte auf den ersten Blick Schnittlauch, Koriander und Salbei erkennen. Als er später, ungewöhnlich zufrieden mit dem, was er heute geschafft hatte, wieder durch die Dachluke kletterte, spielte irgendwo in seinem Hinterkopf die Frage, ob der verwitterte Holzstuhl, der fast am Dachrand neben zwei Johannisbeersträuchern gestanden hatte, beim Umzug der alten Dame wohl vergessen worden war.  

Sie wartete noch ein wenig ab, nachdem sie die Tür im oberen Stockwerk hatte zufallen hören. Es kam nämlich vor, dass der Nachbar mit den warmen blauen Augen, um die grundsätzlich ein dunkler Schatten lag, noch einmal herauskam und aus irgendeinem Grund ein paarmal am Türknauf rüttelte, bevor es in seiner Wohnung endgültig ruhig wurde. Sie lauschte. Dann aber hörte sie, wie drei Schlösser nacheinander einrasteten. Na also! Sie öffnete ihre eigene Wohnungstür, schlüpfte hindurch und nahm mit leisen Schritten die vier kleinen Treppen ins siebente Stockwerk, wo sie einen ringelbesockten Fuß auf die erste Stufe der Holzstiege setzte und nach oben spähte. Als sie vor einer halben Stunde nachgesehen hatte, war ein schmaler Lichtschein durch die Dachluke in das Zwielicht des Hausflurs gefallen. Jetzt aber lag der Einstieg dunkel und still am Ende der Treppe und die Luke gab sofort nach, als sie sanft dagegen drückte. Als die junge Frau in den Garten trat, lag die Welt über den Dächern gerade in orangefarbener Dämmerung und die Sonne war bereits zur Hälfte hinter den Kathedralen der Stadt versunken. Sie fröstelte leicht und zog sich die helle Strickjacke, die sie rasch übergeworfen hatte, enger um die  schmalen Schultern. Das war ein verdammt kurzer Sommer gewesen. Sie sah sich um und musste lächeln. Das Paradies hatte sie sich anders vorgestellt, aber es gefiel ihr trotzdem. Vorsichtig ging sie um den Lavendel herum, hüpfte über ein paar flache Steine, die in den Beeten verteilt waren, und setzte sich auf einen großen Findling am linken Gartenrand, auf dem auch die alte Künstlerin oft gesessen und liebevoll auf ihr Vermächtnis geblickt hatte. Der Himmelpfortengarten erinnerte die Besucherin ein wenig an den alten Schrebergarten ihres Großvaters, der vor sieben Sommern verstorben war. Sein Grundstück war das letzte und größte   in der Reihe gewesen, da es an ein kleines Wäldchen grenzte, das der alte Mann wortlos annektiert hatte. Da er sich nie viel aus Gartenarbeit und Rasenpflege gemacht hatte, waren Wäldchen und Schrebergarten im Laufe der Jahre zusammengewachsen und sie hatte in den frühen Herbstmonaten nicht nur Äpfel, Mirabellen und Stachelbeeren, sondern auch allerlei Wildkräuter, Brombeeren, Sanddorn, Bucheckern und manchmal sogar Walnüsse ernten können. Auch im Pilze Sammeln hatte sie sich einmal versucht, doch bis auf ein paar traurige Champignons war ihr Korb leer geblieben. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie ihrem Großvater, sehr zum Missfallen ihrer lilienliebenden Mutter, rote Gerbera auf den Sarg gelegt hatte. Zwei Tage nach der Beerdigung war sie ausgezogen, um in einer neuen Stadt, die nichts von roten Gerbera und traurigen Pilzen wusste, nach ihrem Glück zu suchen. Gelandet war sie in der Himmelpforte. Sie seufzte und strich sich mit der Hand durch das kurze Kupferhaar, das sich, seit sie es abgeschnitten hatte, noch stärker kräuselte. Wenn sie wenigstens schon einen Abschluss hätte! Andererseits waren andere Dinge jetzt erst einmal wichtiger. Und sie war ja noch jung, sie hatte noch Zeit. Die Besucherin atmete ein paarmal tief durch und dachte mit Unbehagen an den sonderbaren Geruch, der sie aus ihrer Wohnung getrieben hatte. Sie schloss die Augen und genoss das Rauschen, mit dem der Wind durch die langen Schilfgräser fuhr, die ein Freund der alten Dame einmal von einer kleinen Nordseeinsel mitgebracht hatte. Ich muss dringend anrufen – bin ja nicht empfindlich, aber heute Morgen! – Und dabei war mir die ganze Nacht schon übel – nein! Das geht nicht!! Schmeckt immer noch bitter.. Sicher wieder irgendein Tier .. Letzten Winter war es eine Ratte. Sie schüttelte sich. Die Rohrleitungen in diesem Haus waren alt. Wie alt genau, das wusste sie zwar nicht, aber das Haus musste mindestens aus den 40er Jahren sein. Es war auch nicht das erste Mal, dass etwas in den Eingeweiden der Himmelpforte verendet war. Trotzdem würde sie am Morgen bei der Hausverwaltung anrufen. Immerhin konnte sie es sich nicht erlauben, jeden Morgen über der Kloschüssel zu hängen. Nicht jetzt, wo bald die Zwischenprüfungen anstanden. Nicht jetzt. Die junge Frau kehrte erst wieder in ihre Wohnung zurück, als es schon sehr dunkel war und sie gerade noch sehen konnte, wohin sie die Füße setzte. An diesem Abend putzte sie sich die Zähne über der Küchenspüle und hielt die Luft an, als sie an der Badezimmertür vorbeiging.

Von dem warmen Nieselregen, der sich in der Nacht über das achte Stockwerk gelegt hatte, war am Morgen schon kaum mehr etwas zu spüren, und als gegen 11 Uhr erneut die Dachluke aufklappte, hingen nur hier und da noch ein paar Tropfen an Blättern und Blüten. Die Frau, die jetzt den Kopf durch die Luke steckte, hätte es allerdings auch nicht interessiert, wenn der Garten patschnass gewesen wäre. Man hatte sie an diesem Tag bereits angeschrien, vollgespuckt und zuguterletzt eine schlechte Mutter genannt, weil sie die Halloween-Kostüme in diesem Jahr nicht selbst nähen, sondern lieber kaufen wollte. Jetzt, wo beide Kinder für ein paar Stunden versorgt waren, tat sie ihr Bestes, um das Chaos in der Wohnung zu ignorieren und sich ein paar Augenblicke kostbarer Zeit zu stehlen. Die Besucherin kletterte, eine rote Decke unter dem Arm, in den Garten, ging leise um den breiten Schornsteinschacht herum, spähte in den Obstgarten und stieß geräuschvoll die Luft durch die Zähne, als sie sah, dass der verwitterte Holzstuhl am anderen Ende leer war. Als sie auf der Flucht vor ihrem Alltag das erste Mal hier heraufgekommen war, hatte sie beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als sie nach einer ganzen Weile um die Ecke gebogen war und am Rande des Obstgartens den alten Mann sitzen sah, der im Stockwerk über ihrer Familie wohnte. Jedenfalls hatte sie geglaubt, dass er es war. Nachdem er an den nächsten beiden Morgen ebenfalls reglos dort gesessen hatte, war sie nicht wieder aufs Dach gekommen. Möglicherweise hätte es ihn gar nicht gestört, aber sie hatte sich bei dem Gedanken irgendwie unwohl gefühlt. Da sie nun sicher sein konnte, dass sie niemand störte, hellte ihre Miene sich auf, und sie ging zurück zur Dachluke und legte die rote Decke darauf ab, bevor sie die Treppe noch einmal herunterstieg und kurz darauf mit einem Klappliegestuhl wieder auftauchte. Mit Liegestuhl und Decke bewaffnet folgte sie dem Bachkieselweg zur Pergola, stellte den Sessel auf, breitete die Decke darüber, ging zurück zur Luke und verschwand erneut. Kurze Zeit später kam sie, eine Flasche Rotwein und ein großes Glas in der Hand, wieder nach oben. Als die Sonnenstrahlen die Stachelbeerbüsche im Obstgarten erreichten, war die Zeitdiebin bereits beim zweiten Glas Wein angelangt und hatte soeben erfreut festgestellt, dass die Laken mit Babykotze, die im dritten Stockwerk auf sie warteten, schon fast aus ihren Gedanken verschwunden waren. Fast. Sie nahm einen besonders großen Schluck. Wie gut, dass sie ihre Kinder so sehr liebte. Sonst würde sie das alles wahrscheinlich gar nicht schaffen. Aber es wusste schließlich jeder, dass Müttern übermenschliche Kräfte zuwuchsen. Sie kicherte leise und nahm einen weiteren Schluck Wein. Worüber hatte sie neulich so lachen müssen? Richtig! Sex ist wie Zähneputzen, hatte Mira aus der Spielgruppe gesagt. Sie schwenkte ihr Glas. Wie Zähneputzen nun vielleicht nicht gerade. Andererseits war es eben jeden Tag der gleiche Mann. Und Zahnpasta gab es wenigstens in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Sie kicherte wieder, dann verfinsterte sich ihre Miene. Mira! Dieser Kuchen neulich beim Sommerfest – mit Sicherheit nicht selbst gebacken! Angeblich glutenfrei … Dass ich nicht lache! Seit der kleine Felix – ich weiß genau, wie glutenfreies Gebäck .. Widerliches Zeug! … Und den Kuchen haben sie ihr aus der Hand gerissen.. Sie hielt inne. War demnächst nicht Sommerschlussverkauf? Wenn sie sich beeilte … Kinderschuhe. Natürlich! Sie bräuchte eigentlich auch mal neue für sich. Sie seufzte und blickte in das bunte Blumenmeer, das sich zu ihren ausgestreckten Füßen ergoss. Alle Achtung, die alte Dame hatte ganze Arbeit geleistet. Dann fiel ihr Blick auf eine mickrige Orchidee, die links von ihr auf einem umgedrehten Blumentopf stand und traurig die Blütenköpfe hängen ließ. Naja. Man kann eben nicht für alle Pflanzenarten einen grünen Daumen haben. Sie nippte erneut an ihrem Wein und entschied, dass es zu anstrengend war, ihre Gedanken zu organisieren. Vorhin war sie auf dem Weg in den Kindergarten schon wieder der jungen Frau begegnet, von der sie nie wusste, in welchem Stockwerk sie wohnte. Wahrscheinlich Studentin, sieht jedenfalls so aus. Diese Lederjacke und die Haare dazu – hat nicht mal gegrüßt! .. Und das am Vormittag .. . Bis zum Abend – meine Vorlesungen gingen bis abends! Wahrscheinlich Kunststudentin. Ihr Mann hatte sich als nächster Rodin gefühlt, als sie sich in diesem Künstlercafé mit den verstaubten Musikinstrumenten und dem schmiedeeisernen Notenschlüssel über dem Eingang kennengelernt hatten. Aber als ihre Tochter geboren worden war, hatte er wieder angefangen, als Schreiner zu arbeiten. Sie schenkte sich nach. Wenn ich damals soviel Zeit … Am Morgen schon zu Hause – hat nicht mal gegrüßt! Aber es ist gut so, ich bin eine gute Mutter. Das Praxisjahr – die meisten schaffen das eh nicht. Und diese junge Frau – diese Lederjacke! – Wie alt war die eigentlich? Sie entschied, dass die Nachbarin von oben sehr jung sein musste, denn irgendwo in ihrem Unterbewusstsein dämmerte die Erkenntnis, dass zwischen ihnen wahrscheinlich keine fünf Jahre lagen. Als der Smartphonewecker klingelte und ihre Realität mit einem Schlage wieder aus Babykotze bestand, überlegte sie einen Moment lang, ob sie wirklich wieder zweimal zurücklaufen musste, oder ob sie nicht einfach alles hier liegen lassen konnte. Die anderen Bewohner interessierten sich wahrscheinlich sowieso nicht für das, was hier oben war – und der alte Herr aus dem dritten Stock würde gar nicht bemerken, dass sie die Pergola beansprucht hatte. Er saß ja ohnehin immer nur auf dem Stuhl im Obstgarten und   starrte Wer-weiß-wohin. Ja! Außerdem brauchte sie den Garten sowieso dringender als die anderen. Die fuhren im Sommer bestimmt nach Hawaii oder auf die Malediven. Und wir? Ostsee, jedes Jahr Ostsee. – Und letztes Jahr diese Mittelohrentzündung .. Die ganze Nacht hat er geschrien – Und geregnet hat es auch! Mama kommt schon, Mama kommt ..

Lavendel. Sie verzog das Gesicht. Was für ein penetranter Geruch. So rochen alte Leute, die sich die Schränke voll Mottenkugeln stopften. Hatte die alte Dame auch so gerochen? Sie erinnerte sich nicht. Sie war ihr auch nur ein paar Mal begegnet. Die Bachkiesel hatten sie in Gedanken zur Pergola geführt und sie blickte erstaunt auf das Lager aus roten Decken, das sich jemand hier errichtet hatte. Sie sah genauer hin. Nein: Es war nur eine einzige sehr große Decke. So eine Art Steppdecke, überlegte sie mit einer Mischung aus Neid und Verachtung. Wie brave   Bürger sie jeden Morgen über ihre Ehebetten breiten. Aber was hat die hier auf dem Dach zu suchen? Sie zögerte einen Moment, dann ließ sie sich auf die Liege fallen, zog die Beine an und schlang die Arme um die Körpermitte. Darüber konnte sie sich im Augenblick wirklich keine Gedanken machen. Nicht jetzt. Sie hatte schon wieder die halbe Nacht damit verbracht, sich von ihrem Abendessen zu verabschieden. Nie wieder Lasagne – und dann noch dieser widerliche Geruch! Morgen früh kommt jemand. Morgen früh … Ein bisschen weniger als 24 Stunden .. Aber zu Hause kann ich nicht – das ist zu lange. In die Bibliothek! .. Ich hab bestimmt was Falsches gegessen. Sie musste aufstoßen und hielt sich eine Moment lang besorgt die Hand vor den Mund. Was sollte es sonst sein? Diese ständige Übelkeit – und dabei musste sie sich doch vorbereiten! Die meisten ihrer Freunde hatten sich schon pharmazeutische Unterstützung geholt, um mehr Lernstunden aus dem Tag zu quetschen. Es könnte natürlich … Nein. Ich war noch nie besonders pünktlich. Ich muss mich   konzentrieren – Nicht jetzt! Aber vielleicht .. Auf dem Rückweg von der Uni. .. Muss ja keiner wissen. .. Nur schnell rein und wieder raus – Sie geben einem ja heute diese unauffälligen Papiertüten.

Das zweite Mal war ihm nicht so leicht gefallen. Ganze vier Anläufe hatte es gebraucht, bis er die Holztreppe erreicht hatte, ohne sich zuvor von diesem oder jenem Geräusch vertreiben zu lassen. Besonders schlimm war das Kindergeschrei gewesen, das irgendwo aus einem der unteren Stockwerke kam. Kindern konnte man nicht trauen. Gut möglich, dass einem der Miniaturmenschen einfiel, die Treppen hochzulaufen – nur um zu sehen, was denn hier oben war. Er schüttelte entsetzt den Kopf. Die Orchidee mit den getigerten Blüten, die sogar noch trauriger aussah als die Mittwochsorchidee, hatte er aus seinem Büro mitgebracht. Er vermutete nämlich, dass es dort sogar für Orchideengewächse zu wenig Sonne gab. Als er zur Pergola kam und die Klappliege mit der roten Decke sah, hielt er vor Schreck die Luft an und sah sich gehetzt im Garten um. Er war ja selbst Schuld! Warum hatte er sich auch eingeredet, dass außer ihm niemand hier heraufkommen würde? Dann straffte er die Schultern. Mein Recht! Es ist mein Recht, hier zu sein! Normale Menschen kümmert es gar nicht – Ich tue schließlich nichts Verbotenes. Und normale Menschen würden ihre Sachen übrigens nicht einfach so herumliegen lassen. Er sah sich noch einmal im Garten um, dann schob er die Liege mit dem Fuß ein Stück zur rechten Seite. Sie stand für seinen Geschmack deutlich zu nahe an seiner Orchidee. Als die Holzliege mit einem seltsam klingenden Geräusch auf den Goldregen traf, sah er überrascht auf, stellte die kleine Tigerblume neben den umgedrehten Terracottatopf und hob die schweren gelben Stauden an, die vom Dach der Pergola bis auf den Boden flossen. Er runzelte die Stirn, griff nach der offenen Weinflasche, roch daran und verzog das Gesicht. Er verabscheute billigen Wein. Aber wer immer hier gelegen hatte – es war ihm offensichtlich nicht um den Genuss gegangen. Er stellte die Flasche mit langsamen Bewegungen zurück, richtete sich auf und ließ den Blick traurig über Blüten, Blätter und Bachkiesel gleiten. Verloren! Zornig ballte er die Fäuste. Das tun sie IMMER. – Kaputt! Normale Menschen machen alles kaputt … Kommen her und trinken. .. Sie wissen gar nichts. – Wollen auch nichts wissen! Und dann fragen sie mich – Ha! – Warum ich sie nicht mag?! Er schüttelte traurig den Kopf. Das Paradies war verdorben.

Vorbei. Alles vorbei. Sie würde ihr Studium abbrechen und ihre Träume in einer kleinen Schatulle mit Vorhängeschloss begraben. Sie atmete tief durch und wischte sich die nassen Augen. Selbst hier oben glaubte sie, den widerlichen Dunst zu riechen. Nur noch eine Nacht, morgen früh kommt jemand … Aber was kümmerte sie das jetzt? Sie musste eine Entscheidung treffen, NOCH war Zeit. Über solche Dinge sprach ja niemand, aber trotzdem gab es Leute, die es machten. Vielleicht hatte es sogar eine ihrer Freundinnen gemacht und sie wusste es nur nicht. Eine Familie gründen konnte man immer noch – sie war ja noch so jung, sie hatte noch jede Menge Zeit.

Dass die Liege an einem anderen Platz stand, bemerkte sie nicht. Wohl aber, dass jemand ihr Flaschen-Versteck gefunden hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Offenbar war dieser jemand kein Weinliebhaber gewesen. Sie nahm die rote Decke, wickelte sie sich um den Körper (es war ein wenig kühl geworden über Nacht), goss sich auf die Liege und befüllte das neue Glas, das sie mitgebracht hatte, mit dem alten Wein. Der Morgen heute war ein wenig besser gewesen als der gestrige. Zwar hatte ihr Mann wieder im Wohnzimmer geschlafen und sie über seine Cornflakes hinweg angeschwiegen, doch das bedeutete jedenfalls, dass sie eine erholsame Nacht und ein entspanntes Frühstück gehabt hatte. Und keines ihrer Kinder hatte sie angespuckt! Sie prostete der kümmerlichen Orchidee zu und nahm einen großen Schluck. Eigenartig. Hatten da gestern auch schon zwei von den traurigen Blumen gestanden? Sie zuckte erneut mit den Schultern. Egal. Irgendetwas war heute morgen im Haus passiert. Als sie ihre Kinder gerade für die Spielgruppe fertig machte, hatte sie von oben merkwürdige Geräusche gehört. Die Spielgruppe! Schon wieder zu spät. – Sex ist wie Zähneputzen ..Und dann will sie auch noch – ich hätte Nein sagen sollen. Aber ICH bin eine gute Mutter. Hoffentlich holt sie ihn nachher nicht so spät ab. Als sie von der Spielgruppe zurückgekommen war, hatten ein paar Leute in der Eingangshalle gestanden und ernste Gesichter gemacht, als sie vorbeigegangen war.

Hoffentlich war die Sache erledigt, bevor sie nach Hause kam. Als sie die beiden Männer von der Hausreinigung heute früh in ihrer Wohnung alleine gelassen hatte, um rechtzeitig zu ihrem Termin zu kommen, hatten sie noch keine Ahnung gehabt, wo der merkwürdige Geruch herkam. Sie hustete nervös und hielt sich unauffällig die Nase zu, als eine Frau mit besonders süßlichem Parfum an ihrem Platz vorbeiging. Jetzt saß sie schon seit einer ganzen Stunde hier, als ihr Blick auf einen Stapel Broschüren fiel, die auf einem kleinen Tischchen lagen. Natürlich. Lauter bunte, fröhliche Menschen … Diese Frau da – der floss die Glückseligkeit ja fast aus dem Gesicht.

Nein. Irgendetwas war definitiv passiert. Das Haus war viel lauter als sonst. Und andauernd hatte sie Türen auf- und zugehen hören. Ausgerechnet heute, wo sie drei Kinder dazu bringen musste, nach dem Mittagessen einzuschlafen. Als ihr Smartphone sie vorhin aus ihrer Weinseligkeit gerissen und sie die Kinder von der Spielgruppe abgeholt hatte, war sie draußen, etwa auf Höhe der gelben Schnecke, der jungen Kunststudentin begegnet. Gegrüßt hatte die natürlich wieder nicht. Aber dafür hatte sie ihre Kinder irgendwie merkwürdig angesehen. Fühlt sich wahrscheinlich als was Besseres, nur weil sie noch Träume hat. – Hoffentlich kommt Mira nicht so spät .. Der Tag nimmt gar kein Ende.

Aus irgendeinem Grund beruhigte ihn der Gedanke, dass er heute in seiner Wohnung bleiben konnte. Nachdem der erste Zorn darüber, dass jemand den Himmelpfortengarten besudelt hatte, verraucht war, hatte ihn eine gewisse Erleichterung erfüllt. Es war eben doch besser, wenn Träume nicht in Erfüllung gingen. Siehst du!, hatte er am Morgen zu seinem Spiegelbild gesagt: Je mehr man hofft, desto ärger wird man enttäuscht. Hoffnung ist etwas für normale Menschen, die im Paradies liegen und sich betrinken. Alleine in seiner Wohnung, mit seinen Büchern und seinen Orchideen, wusste er jedenfalls, was er zu erwarten hatte. Der letzte Fall, der an diesem Tag auf seinem Tisch lag, war laut Papieren „87-jährig, ohne Familie“ verstorben und in seiner Wohnung aufgefunden worden. In Gedanken bereits bei dem guten Glas Rotwein, das er sich am Abend genehmigen würde, hatte er seine Arbeit getan, Herzversagen als Todesursache bestätigt und war in die Himmelpforte zurückgekehrt. Den alten Mann, der auf dem Weg zum achten Stockwerk die letzten 16 Jahre an seiner Wohnungstür vorbei geschlichen war, hatte er nicht erkannt.

Natürlich hatte auch das neue Haus, in dem die alte Dame nun wohnte, eine Geschichte. Aber da diese Geschichte noch in den Kinderschuhen steckte, hatte es sie nie sonderlich interessiert. Dafür erzählte sie jedem, der sich auf ein paar Stunden mit Kaffee und Kuchen zu ihr setzte, vom Himmelpfortenhaus, seinem geheimen achten Stockwerk – und von ihrem stummen Freund. Dieser hatte sie einmal, lange bevor es die Pergola gegeben hatte, und lange, bevor er zu Reden aufgehört hatte, im Hausflur angesprochen und erzählt, dass er das Himmelpfortenhaus schon gekannt hatte, als es noch kein Flachdach getragen und man noch keine Erde darauf geschüttet hatte. Trotz der Missbilligung, die damals in seiner Stimme lag, hatte sie gespürt, dass er sich nach ihrem Garten sehnte.

Und so hatte sie auch nichts gesagt, als er sich eines Tages mit einem alten Holzstuhl die schmale Treppe zur Dachluke heraufgequält, ihn mitten in ihrem Obstgarten aufgestellt und nie wieder abgeholt hatte. In den folgenden Jahren hatten sie stillschweigend nebeneinander hergelebt: Sie auf dem Blumen-, er auf dem Obstdach. Und sobald sie im Herbst damit anfing, die Welt über den Dächern abzuernten, war er stillschweigend aufgestanden und hatte sich mit seinem schlurfenden Gang zurück auf den Weg in seine Wohnung gemacht. Dort hatte er am Fenster gesessen, auf die Straße gestarrt und mit einem gichtverkrümmten Zeigefinger ein kleines Zeichen nachgemalt, das jemand vor einer Ewigkeit in das Fensterbrett geritzt hatte.


Nachtrag für LeserInnen mit offenen Augen:

Einige Wochen nachdem in der Himmelpforte 23 das Geheimnis des verwitterten Holzstuhls gelüftet worden war, standen der kleine Felix und seine große Schwester im dritten von acht Stockwerken am Fenster und sahen zu, wie eine große Gruppe dunkelgekleideter Männer und Frauen in Kapuzenpullovern und schweren Stiefeln über die Himmelpforte Richtung Apfelallee zog und rot-weiße Plakate mit schwarzer Schrift in die Höhe hielt. Im Stockwerk darüber hatten an diesem Tag die Renovierungsarbeiten begonnen, weil sich endlich neue Mieter für die Wohnung des alten Mannes gefunden hatten. Die neuen Nachbarn, denen Felix´ Mutter zufällig auf dem geheimen Dachgarten begegnet war, hatten ihr erzählt, das seit mindestens 60 Jahren nichts mehr in der Wohnung getan worden war und dass der alte Mann noch nicht einmal das kleine Hakenkreuz entfernt hatte, das irgendwann einmal in die Fensterbank geritzt worden war. Sowas! Ein Hakenkreuz? Felix` Mutter war empört gewesen, doch der neue Nachbar hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Vielleicht hat es ihn an etwas erinnert.“

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Moin, ich bin Nele! Debütautorin mit Imposter-Syndrom, Mama-Bloggerin für Kopfgeburten und unsichtbare Autistin. Auf meiner Website schreibe ich über alles, was mir die Seele zerwühlt.