Der Bratapfel

Weihnachten 45 wusste niemand so recht, wie es um die Welt stand. Ein Dokument vom 08. Mai hatte den Krieg für beendet erklärt, Hitler hatte sich mit einem Kopfschuss in die Geschichtsbücher befördert und Cordell Hull wurde für sein Mitwirken an der Gründung der Vereinten Nationen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Damals, als das amerikanische Magazin Time schrieb, das Deutsche Reich sei am sonnigen Morgen des 23. Mai in der Nähe des Ostseehafens Flensburg gestorben, war Gerda Möller ein siebenjähriges Mädchen, das sich beim Überschlag an der Stange die Schneidezähne ausgehauen und einer zappeligen Schulkameradin vor Wut den dicken gelben Zopf abgeschnitten hatte.

Es war das erste und letzte Mal, dass ihre Heimatstadt in den Annalen der Weltgeschichte auftauchte, denn die kleine Hafenstadt war für die Presse nicht halb so interessant wie das nahegelegene Hamburg, wo ein paar Monate später 800.000 kollektiv schuldige Großstädtler kollektiv zu erfrieren drohten. Als im November die Nürnberger Prozesse begannen und die drei großen Schwestern Hinterhofkaninchen gegen Seidenstrümpfe tauschten, pinkelte Gerda zusammen mit ihrer besten Freundin Karin auf ein dickes Stück Schinken und verfütterte es an Ole und Bruno Petersen aus der Nachbarschaft. So begann der Winter 45.

Familie Möller hatte, wie die meisten Familien in der Straße, einen kleinen Hinterhofgarten, in dem Kartoffeln, Mohrrüben und dicke grüne Bohnen wuchsen. Neben dem selbstgebauten Kaninchenstall, der nach dem Heiligen Abend um einen Braten ärmer war, standen zwei kümmerliche Apfelbäume. Jeden Sommer besah sich Gerdas Vater mit zweifelndem Blick die dünnen, von weißen Blüten gesprenkelten Äste und sagte zu seiner Frau, dass sie in diesem Jahr wohl keine reiche Ernte erwarten dürften. Und jeden Herbst, wenn die knorrigen Laubbäume den Rasen unter einer bunten Blätterdecke begruben, ächzten die zwei kümmerlichen Bäumchen unter ihrer Last aus kleinen braunen Früchten.

Rosa Möller pflückte jeden der schrumpeligen Äpfel, die wie Beeren dicht an dicht saßen, und breitete sie in der kleinen Vorratskammer auf alten Zeitungen aus. Sie, der es gelungen war, vier Töchter und einen Ehemann mit ein bisschen mehr als nichts durch die Kriegsjahre zu bringen, hatte sich vorgenommen, am Heiligen Abend 1946 einen Nachtisch aus Bratäpfeln auf den Tisch zu bringen. Als das Weihnachtsfest vor der Tür stand, hatte sie bereits ein paar Esslöffel Zucker von den wöchentlichen Rationen zusammengespart und in einem Tontopf hinter den Äpfeln zwei Handvoll Mandeln versteckt. Als Letztes ging sie zu Tante Anna, die im letzten Haus der Straße wohnte und Verwandtschaft jenseits der Grenze besaß, um zwei Kilo Kartoffeln gegen echten dänischen Vanillezucker zu tauschen.

Tante Anna, die sommers wie winters blaue Kittelschürzen trug und ihren Mann schon vor Jahren begraben hatte, besaß die Gabe des Fabulierens: Wann immer ihr Kinder begegneten, machte sie große Augen, erzählte Geschichten aus Zauberwelten und Märchenlanden und wackelte dazu mit einem beachtlichen Paar Ohren, das für ihren Kopf schon in Jugendzeiten zu groß gewesen war.

Ihre Lieblingsgeschichte, die sie für gewöhnlich mit kreisenden Bewegungen ihrer breiten braunen Hände untermalte, war die von einem Königssohn, den der Krieg in ein fernes Land verschlagen hatte, wo er Zuflucht auf dem Dachboden einer armen Witwe gefunden hatte. Wenn die Kinder fragten, ob der unglückliche Prinz jemals wieder in sein Königreich zurückkehren würde, wackelte Tante Anna verheißungsvoll mit den Ohren, flüsterte „Wer weiß, wer weiß…“ und schielte zum Dachboden ihrer kleinen Kate hinüber. Dort wohnte seit fast zwei Jahren ein junger Handwerksbursche mit Triefauge und Spinnenfingern, dessen lange blasse Gestalt nicht weniger königlich hätte sein können.

Da Tante Anna es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, alle Neuigkeiten, die ihre großen Ohren auffingen, sofort auf die Straße zu tragen, erzählte Rosa während des Tauschgeschäfts von ihrer Sorge, dass die Weihnachtsäpfel ohne Füllung bleiben würden, da man zurzeit weder echtes Marzipan noch wenigstens Bittermandelöl auftreiben könne. Sie wusste, dass Tante Anna die Geschichte bis zum Abend im gesamten Viertel verbreitet haben würde. Und tatsächlich: Einen Tag vor Heiligabend, als Rosa ihren Bratapfeltraum bereits zerplatzen sah, stand plötzlich die kleine Inge Hansen vor der Tür.

Von Inge, deren hellblaue Augen stets ein wenig überrascht zwischen zwei zimtgelben Zöpfen hervorblickten, sagten Gerdas Freundinnen, sie sei als kleines Kind vom Wickeltisch gefallen. Sie war die jüngste Tochter von Meister Hansen, dessen Backstube zwei Straßen weiter, in einem schmalen Haus mit drei Stockwerken und kleinen Sprossenfenstern lag. Im vorderen Teil dieses seltsam proportionierten Hauses, das nur fünf Meter breit und fast dreizehn Meter lang war, befand sich das Ladengeschäft, in dem Inges Mutter Rosinenkuchen und Franzbrot verkaufte. Aus dem hinteren Teil des Erdgeschosses, wo Meister Hansen und sein Geselle am heißen Ofen standen, stiegen tausend süße Düfte, die die Nachbarn mit flinken Fingern an der Nase kitzelten.

Nachdem weder der Krieg noch die knappen Jahre der folgenden Zeit sein Geschäft ruiniert hatten, war dem Bäckersmeister mit seinem jüngsten Kind, das im Unterricht nicht folgen konnte und beim Sprechen jedes Wort schmerzlich in die Länge zog, ein kleines Kreuz geboren: Der Herrgott hatte Inge, gleichsam zum Ausgleich ihres schlichten Gemüts, mit einem besonders großen Herzen beschenkt. So kam es, dass die fleißige Kirchgängerin ihre Nächstenliebe heimlich im Hinterhof der väterlichen Backstube praktizierte, indem sie Buttermilchstuten, Schmalzkuchen und Sirupplätzchen an alle Kinder der Straße verteilte.

Als Inge Hansen in der Tür stand, fragte Rosa nicht, ob ihr Vater von dem kleinen Fläschchen Bittermandelöl wusste. Sie nahm es rasch an sich und bezahlte das Mädchen, dem wie immer ein überraschter Ausdruck in den blauen Augen lag, mit einem Stück grüner Seife aus dem Schuppen. Es war das letzte von 20 Stücken Kernseife, die mein Urgroßvater gegen Stoffe hatte eintauschen wollen – bevor die Ratten alles bis auf eines aufgefressen hatten.

So gab es in diesem Winter zwar keine neuen Mäntel, doch am 24. Dezember duftete es im ganzen Haus nach gebratenen Äpfeln und Marzipan, das Gerda Möllers Mutter aus Weichweizengrieß, Puderzucker, ein wenig Butter und Meister Hansens Bittermandelöl gezaubert hatte.

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Moin, ich bin Nele! Debütautorin mit Imposter-Syndrom, Mama-Bloggerin für Kopfgeburten und unsichtbare Autistin. Auf meiner Website schreibe ich über alles, was mir die Seele zerwühlt.