
Emma Andersson lebte mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern in einem kleinen Haus mit moosgrüner Tür und Efeu vor den Fensterläden. Im Frühjahr blühten im Garten die Magnolien und im Herbst begruben knorrige Laubbäume den Rasen unter einer rostroten Blätterdecke. Früher hatten sie die schönsten Blätter aufgesammelt und sie am Küchentisch zu bunten Mosaiken zusammengesetzt, die nach Moos und Pilzen dufteten. Den schönsten Mustern hatte ihre Mutter mit Klebestift und Klarlack ewiges Leben verliehen und sie neben die älteren Kreationen aus 17 Jahren Kinderhandkunst an die Wände des langen Hausflurs gehängt. Es war lange her, seit die Traurigkeit bei ihnen zu Hause eingezogen war. Es war an jenem Tag geschehen, an dem Katharinas Klassenlehrerin mitten in der Musikstunde einen Krankenwagen rufen musste, weil Katharina, die schon seit ein paar Wochen mit einem hartnäckigen Husten kämpfte, keine Luft mehr bekam.
Eine Woche später hatten die Ärzte die Chemotherapie eingeleitet.
Dreizehn Monate später kehrte Katharina in ihr Kinderzimmer zurück.
Obwohl Emmas Mutter keine Fremden im Haus wollte, musste es jemanden geben, der Katharinas Schmerztherapie überwachte, und der wusste, wie die medizinischen Apparate zu bedienen waren, die zu beiden Seiten des Bettes aufgebaut wurden. Für diese Aufgabe vermittelte das Marienspital eine palliative Pflegekraft namens Jonna.
Jonna war eine untersetzte, stämmige Person mit Sommersprossen und meeresblauen Augen hinter großen runden Brillengläsern, die sich hingebungsvoll um Katharina kümmerte und in den richtigen Momenten unsichtbar wurde.
“Was macht sie?” fragte Charlotte.
“Sie sorgt dafür, dass Katharina hierbleiben kann und nicht wieder zurück ins Krankenhaus muss”, sagte Emma. Die beiden standen nebeneinander im Flur und sahen zu, wie Jonna Katharina an die Geräte anschloss, die leise piepende Geräusche von sich gaben.
“Ist Kathi denn jetzt gesund?” fragte Charlotte.
“Nein”, antwortete Emma, und zwang sich für ihre kleine Schwester zu einem Lächeln, “aber sie möchte nicht mehr im Krankenhaus sein”.
“Ich mag das Krankenhaus auch nicht”, flüsterte Charlotte und griff nach Emmas Hand.
[…]
Abend für Abend, sobald die Dämmerung das letzte Licht des Tages verschluckte, senkte die Nacht sich auf das kleine Haus mit der moosgrünen Türe und schlüpfte durch eines der Fenster ins Wohnzimmer. Dort betrachtete sie traurig die glücklichen Menschen, die goldgerahmt von der Wand über dem Esstisch lachten, und sah beklommen zu, wie Carmen das blasse, seltsam spitze Gesicht ihrer Tochter immer wieder zwischen die Hände nahm. Das zerbrochene Lächeln hatte sie schon lange nicht mehr aufgesetzt. Irgendwann war nämlich auch Carmen klar geworden, was Emma schon lange wusste:
Wer liebt, stirbt immer ein bisschen mit, wenn der Tod das Haus betritt.
[…]
Es gab keinen Abschiedsbrief. Emma hatte ein paar Mal versucht, die richtigen Worte zu finden. Aber wie sollte sie etwas erklären, das sie selbst nicht verstand?
Außerdem hatte sie Angst vor der Wirkung, die ihre letzten Zeilen entfalten würden. Egal, was sie schrieb: Sie würde es nie wieder zurücknehmen können.
Und noch etwas anderes ließ sie zögern: Sie wusste, dass die Macht der Worte begrenzt war. Es gab keine Version eines Abschiedsbriefes, der das, was sie tun würde, weniger grausam machte. Und sie spürte die Pflicht, dieses Wissen zu ertragen.
Alles, was sie bisher zu Papier gebracht hatte, schmeckte nach Ausrede, nach Rechtfertigung. Aber sie wollte sich nicht rechtfertigen. Sie hatte es so entschieden. Und es war die erste Entscheidung, die sie getroffen hatte, ohne an andere zu denken.
Es war das erste Mal, dass die Waagschale zu Emmas Gunsten ausgeschlagen hatte – nicht zugunsten derer, die sie liebte, und für die sie sich verantwortlich fühlte.
Und sie wusste: Was sie jetzt versuchte, tat sie nicht mehr für sich. Sie tat es, um ihre Mutter von Schuld freizusprechen. Sie tat es, um Charlotte Antworten auf Fragen zu geben, die sie ganz sicher eines Tages stellen würde.
Vielleicht hätte sie sogar ihrem Vater Absolution erteilt.
Emma starrte auf die Briefe, die sie angefangen hatte. Dann nahm sie den dünnen Stoß Papier vom Schreibtisch, riss ihn in der Mitte durch, legte die Briefe auf das Kupfertablett, das am Boden neben ihrem Bett stand, und entzündete ein Streichholz.
Während ihre Abschiedsworte Feuer fingen, kehrte sie an den Schreibtisch zurück, nahm den schwarzen Füllfederhalter, und schrieb eine einzige Zeile: Es tut mir leid. Aber auch diese Zeile ging kurze Zeit später in Flammen auf.
Worte, die den Schmerz stillen konnten – man würde sie erst noch erfinden müssen.
[…]
Emma stand am Rande eines Sees, über dem mattgoldener Nebel hing. Sie sah sich um. Wie war sie hierher gekommen? Sie schloss die Augen. Sofort stürzten Bilder auf sie ein:
Die Badewanne, die Schlaftabletten. Ihr Gesicht im Spiegel. Die Rasierklinge, Blut. Schmerz.
Sie riss die Augen auf, griff sich an den Arm und fuhr mit der Fingerspitze von der Ellenbeuge bis zum Handgelenk. Nichts. Ihr Unterarm war so weiß wie eh und je.
Sie war nicht gestorben. Sie konnte nicht gestorben sein. Sie erinnerte sich an alles.
Hatte ihre Mutter nicht im letzten Moment nach ihr gerufen?
Sie hatte sie gerettet. Oder nicht?
Da war noch eine andere Erinnerung.
Es war jemand dort gewesen. Mit ihr, im Badezimmer.