
Wir beginnen unseren Spaziergang in der kleinen Wohnung, in die ich vor fast vier Jahren eingezogen bin. Die Aussicht aus meinem Wohnzimmer ist nicht sehr beeindruckend: Das schnörkelige Jugendstilhaus mit der Eingangshalle aus hellrotem Marmor, in dem sich mein kleines „Atelier“ befindet, wurde in den 70er Jahren von grauen Gemeindewohnungen umbaut. Wenn du dich jedoch auf eines der drei dunkelgrünen Kissen in die rechte Ecke der Fensterbank setzt und aus dem Fenster die Straße hinunterblickst, dann siehst du auf der Ecke zwischen Heumühlen- und Mühlengasse ein schmales weißes Haus mit kleinen Erkern und einem spitzen Türmchen. Ich stelle mir gerne vor, dass hinter den alten Sprossenfenstern der obersten Wohnung ebenfalls eine junge Frau wohnt, die von Zeit zu Zeit den Blick über die Märchenstadt schweifen lässt und ihre Gedanken auf bunten Postkarten für die Lieben in der Heimat festhält. Wäre das nicht wunderbar?
Düfte aus 1001 Nacht
Wir brauchen genau 28 Schritte, bis wir von meiner Haustür den Naschmarkt erreichen. 1780, als hier die ersten Marktstände um den damals noch frei fließenden Mühlenbach errichtet wurden, durften die Standler nur Taubenfutter und Hülsenfrüchte verkaufen. Gut 120 Jahre später setzten die Obstweiber unverschämte Preise für Butterbirnen und Prinzenäpfel fest. Heute schickt dich der Naschmarkt auf eine kulinarische Reise um den Globus: Zwischen Marillen und Butterbirnen liegen süße Datteln, fruchtige Feigen und dunkelrote Granatäpfel. Der Stand mit der alten Ladentür, von der sich bereits die grüne Farbe schält, hat sonnengelbe Mangos im Angebot – und die Frau mit dem runden Hut hat soeben einen ganzen Korb voll Maracujas gekauft. Wir gehen weiter Richtung Morgenland und halten unsere Nasen in die warme Wiener Brise: Muskatnuss und Ingwer mischen sich mit Safran und Anis – und dort: Der Gewürzhändler mit den dunklen Augen zerreibt Nelken und Kardamom zwischen seinen Fingerspitzen. Kannst du riechen, wie es duftet?
Von Zeitdieben und Träumenden
Zur linken Seite, auf der Wienzeile 15, liegt das Café „Amacord“. Den Geschichten zufolge, die sich die älteren Damen beim Kaffee erzählen, hat hier nach dem Krieg eine rüstige Witwe gelebt, die eines Tages beschloss, nicht länger einsam zu sein. Sie öffnete ihr Wohnzimmer für all jene, die ebenfalls alleine waren – und fortan fand hier jeder ein kleines Zuhause und jemanden, mit dem er reden oder dem er zuhören konnte. Der Legende zufolge sind in diesem Café die besten Zuhörer Wiens geboren. Auch heute kommen die Menschen ins Amacord, um sich vom Treiben der Welt auszuruhen, durch die großen Fenster die bunten Marktstände zu betrachten oder sich für eine Weile vor dem Lauf der Zeit zu verbergen, die es seit Jahrzehnten nicht mehr über die Schwelle des Cafés geschafft hat. Hin und wieder kommt auch ein verkannter Schriftsteller hierher, der mit verträumtem Blick an einem der Fenstertische sitzt und den Füllfederhalter über einem frischen Bogen Papier schweben lässt. Auch heute sitzt er dort und schreibt sich die Welt, wie er sie gerne hätte – siehst du ihn? Den jungen Mann mit den traurigen Kinderaugen?
Zwischen Blumenbildern und Bücherfreunden
Wir gehen weiter und passieren indisches Räucherwerk und den Stand mit den getrockneten Früchten, der heute Papayas und süßes Kokosfleisch in der Auslage hat. Zu deiner Rechten erhebt sich das „Majolikahaus“ mit den kleinen Balkonen, die wie runde grüne Beeren unter den Fenstern sitzen. Als Bauherr Otto Wagner das Jugendstilhaus 1898 errichten ließ, zählte die linke Wienzeile noch zu den ersten Adressen der Stadt und in der großen Eingangshalle gingen wichtige Herren mit hohen Hüten ein und aus. Siehst du die bunten Blumenornamente, die an der Fassade blühen? Es sind Fliesen, die nach einem 1:1 Maßstab von der ersten Wiener Ziegelfabrik gefertigt wurden. Heute verschmelzen die gemalten Blumen mit purpurfarbenem Oleander, violetten Clematis und gelben Wandelröschen, die sorgsame Mieter auf ihren Fensterbanken ziehen. Im Erdgeschoss des Majolikahauses, wo früher ein Gemischtwarenhändler Ingwerplätzchen und Kirschmarmelade verkaufte, befindet sich heute ein Antiquariat mit Leseecke, in der es immer nach frischem Kaffee duftet. Der Inhaber, ein Mann mit starken Brillengläsern und Schmunzelfalten um die vollen Lippen, behauptet, die Lieblingsgeschichte von jedem erraten zu können, der sein Bücherhaus betritt.
Von Zeitzeugen und Wunderwelten
Unser Weg führt uns weiter nach Nordwesten, am Majolikahaus und dem lächelnden Bücherfreund vorbei und bis zum Ende der Linken Wienzeile, wo wir auf die Stiegengasse abbiegen. Hier, ganz am Ende der langen Straße, erwartet uns das „Haus des Meeres“ – einer von drei Zoos im Wiener Stadtgebiet. Bei seiner Gründung 1957 vermutete keiner der neugierigen Zuschauer, dass sich im Inneren des ehemaligen Flakturms eine marine Wunderwelt befand. Heute schwimmen hier auf 5000 m2 und acht Stockwerken mitten im Esterházypark Clownfische, Harlekingarnelen, Krokodile, Rochen, Hammerhaie und uralte Meeresschildkröten in bunten Korallenlandschaften. Seit 2014 erinnert das Flakturmmuseum im neunten und zehnten Stockwerk an jene dunklen Zeiten, als die insgesamt sechs Wiener Schutzanlagen auf eine Stadt hinabblickten, die im Begriff war, sich aus der Weltgeschichte zu schreiben. Die ehemaligen „Schwalbennester“ des Hochbunkers dienen heute als Aussichtsplattformen – siehst du da hinten die Schattierungen in Grün und Blau? Dort beginnt der Wienerwald.
Von schiefen Böden und grünen Dächern
Hast du schonmal von einem Haus gehört, in dem es keine geraden Wände gibt? Wien zählt ein solches Haus zu seinem kulturellen Erbe – es steht im Dritten Wiener Gemeindebezirk unter einem Dach aus Birken, Buchen und Kirschlorbeer: Das Hundertwasser-Krawina-Haus ist der lang gehegte Traum des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser, der hier sein „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ realisierte. Wenn du von der Löwen- auf die Kegelgasse kommst, fallen dir als erstes die bunte Fassade und die unregelmäßigen Formen auf: Die 52 Wohnungen und 19 Dachterrassen sind mehr nach Gefühl denn Statik zusammengesetzt und Türmchen, Säulen und Erker sprießen verspielt aus Wänden und Dächern. Der selbsternannte „Kämpfer gegen den rechten Winkel“ hat jeden Raum der Wohnhausanlage individuell geplant und konsequent auf gerade Kanten und ebene Flächen verzichtet. Die in den 80er Jahren angelegten Dachterrassen sind mittlerweile zu wilden Gärten herangewachsen, die das Haus mit dem Wechsel der Jahreszeiten verbinden. Siehst du die bunten Muster, die die Fassade um die Fensterrahmen trägt? In Hundertwassers Testament aus dem Jahre 1999 ist vermerkt, dass jeder Bewohner das „Fensterrecht“ erhalten solle – die Erlaubnis, die Wände um seine Wohnungsfenster herum selbst zu gestalten, soweit die Arme reichen.
Über Gelassenheit und Stadtseele
Da wir es nicht eilig haben, nehmen wir die Ringtram in den Ersten Bezirk. Während die Straßenbahnen in den meisten Städten früher oder später modernen Untergrundbahnen weichen müssen, schlängelt sich durch das Herzen Wiens noch immer die rot-weiße Stadtbahn mit den hölzernen Sitzen, die bei jedem Halt leise quietscht und sich niemals nach dem Fahrplan richtet. Wir verlassen die Bahn an der Ringstraße – genau an der Stelle, wo vor fast 200 Jahren die Stadtgrenze verlief. Zu dieser Zeit wurde auch der Grundstein für jenes Gebäude gelegt, das jetzt zu deiner Linken emporwächst: Die Wiener Staatsoper ist eines der bekanntesten Opernhäuser der Welt und wurde 1869 mit einer Aufführung des „Don Giovanni“ eröffnet – woraufhin die Wiener Mozart sogar verzeihen konnten, dass er Salzburger war. Wenn du dich umsiehst, fällt dir vielleicht auf, dass es in Wien niemand eilig hat. Ob arm ob reich, ob jung ob alt – jeder lässt sich von der gemütlichen Masse treiben, blickt hier und da auf lockende Schaufensterauslagen und atmet tief die wechselvolle Geschichte der Stadt ein. Spürst du, wie die Vergangenheit in deine Seele fließt?
Von Größenwahn und Nestbeschmutzern
Hinter der ehemaligen Stätte des Don Giovanni, vorbei an einer Kaffeerösterei, einem Teeladen und zwei Hutmachern, dort, wo Opern- und Herrengasse aufeinandertreffen, liegt der Michaelerplatz. Seine Namensgeberin, eine romanische Pfarrkirche aus dem 13. Jahrhundert, erhebt sich zur Rechten zwischen zwei Wohnhäusern aus Zeiten der Jahrhundertwende. In der ehemaligen Hofpfarrkirche wurden erstmals Teile aus Mozarts „Requiem“ aufgeführt – anlässlich seiner Totenmesse am 10. Dezember 1791. Gegenüber der Michaelerkirche, auf der anderen Seite des Grabens, siehst du das Café Griensteidl, das unter Wienern auch als „Café Größenwahn“ bekannt ist. In dem ehemaligen Künstlercafé, das viele Literaten um 1900 in offiziellen Dokumenten sogar als festen Wohnsitz angaben, kassierte der selbsternannte „Nestbeschmutzer“ Karl Kraus seinerzeit eine schallende Ohrfeige für eine laut vorgetragene Passage seines Aufsatzes „Die Demolierte Literatur“. Auch heute steht in einem dunklen Bücherschrank gegenüber dem Eingang traditionsgemäß eine Ausgabe des Brockhaus bereit – für den Fall, dass unter den Gästen ein wissenschaftlicher Disput entbrennt.
Von Mätressen und heimlichen Rendesvous
Links neben dem Griensteidl, auf der anderen Seite der Herrengasse, liegen die prachtvollen Bauten der Hofburg. Hier, wo vom 13. Jahrhundert bis zum Ende der Donaumonarchie die Habsburger residierten und Kaiser Franz Joseph die Mätressen vor seiner Gemahlin versteckte, sind heute die Albertina, der Amtssitz des Bundespräsidenten und die Österreichische Nationalbibliothek untergebracht. Vor den drei großen Torbögen, die die Durchfahrt zum Burginneren freigeben, stehen schweigsame Männer mit runden Hüten und dunklen Mänteln. Siehst du jenen mit grauem Bart, der sich gerade eine Pfeife ansteckt? Er ist einer von rund 100 Fiaker-Fahrern, die täglich ihre Mähren anspannen und mit grünen, roten und schwarzen Kutschen auf Zeitreise durch die Innenstadt gehen. Früher, als im Griensteidl noch Größenwahn herrschte und am Naschmarkt der Grundstein für das Majolikahaus gelegt wurde, gab es mehr als 1000 Fiaker-Fahrer in Wien, die ihre Gäste verschwiegen von Ort zu Ort brachten. Besondere Berühmtheit erlangte Josef Bratfisch, der Leibfiaker von Kronprinz Rudolf, der sich von seinem Vertrauten an manchen Tagen alle zwei Stunden eine neue Gespielin bringen ließ. Das Fiaker-Denkmal im dritten Gemeindebezirk ist Bratfisch nachempfunden.
Zwischen Kunst und Dekadenz
Unser Weg führt uns ins Innere der Hofburg, vorbei an der Spanischen Hofreitschule, dem kleinen Ladengeschäft mit handgemalten Postkarten und über den Heldenplatz zwischen Burg und Volksgarten, wo sich Deutsche und Österreicher 1938 zusammentaten, um Europa ins Dunkel zu stürzen. Heute erinnert nur noch das Denkmal Erzherzog Karls an die militärische Gewalt der einstigen Monarchie. Hinter dem Volksgarten, wo im Sommer ein Meer von Rosen blüht, liegt das Burgtheater. Das 1888 gegründete Sprechtheater ist die zweitälteste Bühne Europas und lädt mit hohen Hallen, schmuckvollen Wandbehängen und purpurroten Theatersesseln zu Kulturgenuss und Dekadenz. Siehst du die Touristentrauben vor dem Toreingang? Richtige Wiener meiden die schweren Eichentüren und betreten den historistischen Bau durch einen unscheinbaren Seiteneingang, der den Blick auf ungeahnte Pracht freigibt: Nach wenigen Schritten stehen wir in einer Säulenhalle, deren Decke in luftiger Höhe michelangelogleiche Fresken trägt. Was viele nicht wissen: Wer den Seiteneingang dem Hauptportal vorzieht, wandelt auf den Spuren Sisis: Die österreisch-ungarische Kaiserin betrat das Burgtheater grundsätzlich durch den Nebeneingang, da sie den Lärm der Massen fürchtete. Aus diesem Grund hängt noch heute ein Portrait der Kaiserin zur linken Seite der Säulenhalle.
Von Einspännern und Erinnerungen
Von der zweitältesten Bühne Europas geht es zur ältesten Kirche Wiens: Im „Bermudadreieck“, wo jeden Samstag der Weingeist regiert und schon so mancher Tourist verschwunden ist, liegt die Ruprechtskirche. Das kleine Gotteshaus, das seinen Namen dem Schutzpatron der Salzschiffer verdankt, wurde 740 auf dem Gebiet des ehemaligen römischen Militärlagers Vindobona errichtet und gilt als Keimzelle des späteren Wiener Stadtgebiets. Heute ist die ehemalige Pfarrkirche von drei Irish Pubs, zwei Restaurants und zahlreichen Jugendstilhäusern mit Sprossenfenstern und kleinen Erkern umgeben. Direkt gegenüber der schweren Eingangstür liegt das Traditionshaus „Kuchldragoner“, das für den besten Einspänner und die grantigsten Kellner Wiens bekannt ist. Die Ruprechtskirche steht am Ende der Judengasse, wo in der Reichsprogromnacht `38 die Synagogen brannten. Siehst du die alte Dame, die vorsichtig die Füße auf das Kopfsteinpflaster setzt? Meistens sitzt sie alleine im Kuchldragoner und trinkt wortlos ihren Kaffee. Doch an manchen Tagen, wenn die Geschichten, die sie im Herzen trägt, zu unruhig werden, lässt sie einen dankbaren Zuhörer an ihren Erinnerungen teilhaben: Als die Synagogen brannten, war die alte Dame fünf Jahre alt und lebte mit ihren Eltern im dritten Stock des muschelfarbenen Eckhauses, in dem sie noch heute wohnt. Jeden Herbst, wenn der wilde Wein an der Westfassade des Gotteshauses sich verfärbt, wechselt St. Ruprecht sein Kleid.
Über sauren Wein und Teufelspakte
Siehst du das hohe Eckhaus mit der grünen Fassade, den goldenen Erkern und den filigranen Balustraden? Sobald wir hier um die Ecke biegen, taucht vor unseren Augen der Stephansdom auf – im Boden zu unseren Füßen schlummern die Toten von über 500 Jahren. Der „Steffl“, wie die Wiener ihr Wahrzeichen liebevoll nennen, ist der einzige Dom auf europäischem Boden, der nur einen Turm hat. Baumeister Hans Puchsbaum, der im 15. Jahrhundert mit dem Bau des zweiten Turms beauftragt wurde, soll für das Gelingen der Arbeiten angeblich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben. Dieser jedoch trickste, wie es nun einmal seine Natur ist, den armen Baumeister aus und ließ das gesamte Gerüst einstürzen, noch ehe der Nordturm halb vollendet war. Später ließ Kaiser Friedrich III. den Mörtel für die Bauarbeiten am Nordturm mit dem Wein aus einem besonders schlechten Jahr anrühren – um zu verhindern, dass die Wiener den Traubensaft weiterhin auf die Straßen gossen. Ob es nun am Teufel oder am sauren Wein gelegen hat: Der Nordturm ist bis heute nicht vollendet und führt ein ruhiges Dasein im Schatten seines großen Bruders.
Von dem, was wir alle kennen
Neben dem großen Eingangstor des Doms steht auch heute ein alter Mann mit weißem Bart und freundlichen Augen, der mit weicher Stimme Lieder aus seiner Heimat singt. Niemand weiß genau, wo der Mann hergekommen ist oder wann er das erste Mal zu seiner seltsamen Arbeit aufgebrochen ist.

Für die älteren Herrschaften, die jeden Sonntag der Messe lauschen, ist er ebenso selbstverständlich wie das Weihwasserbecken und der Rosenkranz. Viele glauben, dass der Mann mit der weichen Stimme blind ist, da er niemals jemanden direkt ansieht und nur dann und wann lächelnd den Kopf neigt, wenn er ein Klingeln in seiner Bettelschale hört. Die Lieder, die er singt, haben eine fremde Sprache. Und wer ihn verstehen möchte, muss dicht herangehen und sorgfältig lauschen, weil er so leise singt. Aber wer sich diese Mühe macht, wird feststellen, dass er tief in seinem Innern bereits weiß, wovon der Mann mit den freundlichen Augen singt. Kannst du ihn hören?