Sie kam immer auf dem Bahnsteig II an und fuhr auf dem Bahnsteig I weg. Manchmal tat sie das zehnmal am Tag. Sie stieg in den ersten Waggon nach der Lok, der das Hinterteil einer gelben Graffiti-Schnecke trug, und setzte sich auf den letzten Fensterplatz zur linken Seite, unter den ein Neuntklässler mit Himmelfahrtsnase und Knubbelknien vor Jahren seinen Kaugummi geklebt hatte. An manchen Tagen blieb sie auch einfach hinter der Waggontür stehen und blickte durch die fleckigen Scheiben zu dem kleinen Backshop mit den roten Fensterläden hinüber, in dem sie ihren Kaffee gekauft hatte. Gab es nicht in jedem Bahnhof eine Graffiti-Lok, kaugummikauende Neuntklässler und einen kleinen Backshop?
An Freitagen probierte sie gerne fremde Geschichten an. Den Weg zum Bahnhof, auf dem die Geschichten daherkamen, kannte sie auswendig: 67 Treppenstufen, 5 Schritte bis zum Hauseingang und vorbei an der Nachbarin aus Türe 3, die ihr freundlich zunickt. Über die Strasse, 50 Schritte geradeaus und zwischen den Ständen am Wochenmarkt hindurch, wo sie den Blick über sonnengelbe Mangos, süsses Kokosfleisch und zwetschkengrosse Weintrauben schweifen lässt.
Am Stand mit den Gewürzen hält sie inne, lässt die Fingerspitzen über feine Safranfäden gleiten und schliesst die Augen, während der Händler Sternanis und Nelken zerreibt. Bei der Blumenfrau mit den weissen Händen und dem Lächeln im rechten Mundwinkel kauft sie einen grossen Strauss sommerfarbene Gerbera und lässt das Wechselgeld mit leisem Klingeln in eine Bettelschale fallen. Der Mann, dem die Schale gehört, sitzt immer vor dem Bahnhofseingang und blickt freundlich aus einem Gesicht, das bereits vergessen hat, dass es jung ist an Jahren.
Manchmal, wenn sie in fremde Geschichten schlüpfte, Kaffee durch rote Fensterläden gereicht bekam und von sommerfarbenen Blumen träumte, glaubte sie fast daran, dass das alles möglich war. Doch dann schien ihr das Nicken der Nachbarin plötzlich ein wenig knapp bemessen, die Augen des Gewürzhändlers ein bisschen zu dunkel und das Lächeln, das die Blumenfrau trug, kam ihr auf einmal abschätzig vor. Sie fürchtete, dass der Mann, dem sie das Wechselgeld schenken wollte, insgeheim über ihre Dummheit lachte, dass die Nachbarin sie für seltsam hielt und der Gewürzhändler sich über sie ärgern könnte, weil sie niemals etwas kaufte. Sie dachte, dass man ihr beim Bäcker keinen Kaffee verkaufen wolle, dass der Waggon mit der Graffiti-Schnecke wegen technischer Schwierigkeiten ausfallen und ihr Lieblingsplatz sicher schon belegt sein würde. Sie verlor die Freude an Safran und Sternanis, wandte die Gedanken von den Sommerblumen und spürte, wie die Leben, die sie so gerne anprobierte, kalt zurückstarrten.
Dann brach ihr der Schweiss aus und sie verliess ihren Platz am Wohnzimmerfenster, das den Blick freigab auf den kurzen Fussweg zum Marktplatz und den Bahnhof dahinter. Sie hatte sich jede Geschichte erzählt, die in das grosse Gebäude hineinrollte und jede Pointe, die es auf Schienen verliess. Sie war in jeden Anzug geschlüpft, hatte jeden Koffer getragen und ihre Heimatstadt tausendemale verlassen. Dabei kam sie immer auf dem Bahnsteig II an und fuhr auf dem Bahnsteig I weg. Manchmal tat sie das zehnmal am Tag. Zehnmal Einsteigen, zehnmal Aussteigen, zehnmal Mangos, zehnmal Safran, zehnmal Kaugummisitz und zehnmal sommerfarbene Gerbera. Manchmal war sie müde vom Üben. Und dann versprach sie sich, es am nächsten Tag wirklich zu tun. Morgen. Es gab immer noch ein Morgen.