Der erste Winter nach Kriegsende fiel als weißes Glitzern vom Himmel und legte sich wahllos auf bemützte und unbemützte Köpfe. In der Straße, in der meine Großmutter wohnte, gab es damals fast dreimal so viele Kinder wie Erwachsene. Und da niemand einen Fernsehapparat besaß und alle wichtigen Dinge im stillen Kämmerlein besprochen wurden, wimmelte die lange Straße von morgens bis abends von mageren Jungs und Mädchen, die in ihren weiten grauen Kleidern aussahen wie kleine Erwachsene. So kam es, dass die weiße Pulverdecke nach ein paar Tagen von Schneeengeln und Trampelpfaden durchlöchert war und kahle Stellen trug, wo Kinderhände Munition für Schneeballschlachten herausgeklaubt hatten. Die schmutzigen Schneemänner, die hier und da an den Straßenecken standen, blickten traurig aus schwarzen Kohlenaugen und Tante Anna hatte den Schnee schon ein paar Mal mit ihrem alten Holzkarren durchpflügt. Am Morgen des 25. Dezember, als in den meisten Häusern noch von dem geträumt wurde, was der Weihnachtsmann vergessen hatte, tauchten zwischen Munitionslagern und Trampelpfaden plötzlich schmale geschlängelte Streifen auf, die immer für ein paar Meter geradeaus verliefen, um dann abrupt in eine andere Richtung zu schwenken. Der diese Spuren hinterließ, war ein Junge namens Kai Jensen. Kai wohnte mit seinen Eltern im untersten Geschoss eines Sandsteinhauses mit schmutziger Fassade, vor dem im Mai der Rhabarber blühte.
Kais Mutter, eine waschechte Hanseatin mit kühlen Augen und mausbraunem Haar, das sie nach Mode der späten 20er in engen Wellen trug, fuhr jeden Montag, wie alle Frauen in der Straße, mit dem Bus zur Stadt. Dort stand sie, die schmale Hand unter der Jacke gegen das Kuvert mit Lebensmittelmarken gepresst, nach gutdeutscher Manier mehrere Stunden für Brot, Fleisch und Kaffeeersatz an, der im Winter 45 nach Runkelrüben schmeckte. Kais Vater gehörte zu jenen Männern, die der Krieg verschluckt hatte, ohne ihnen den Heldentod zu gewähren. Erwin Jensen hatte seine Stellung als Grenadier des 26. Infanterie-Regiments an jenem Tag verloren, als Gottweißwer in Berlin das Friedensabkommen unterzeichnet hatte. Froh darüber, nach zwei Wintern an der Ostfront in die Beschaulichkeit seines Bahnwärterhäuschens zurückzukehren, hatte er schon ein paar Wochen nach Kriegsende in frisch gestärkter Uniform bei der Bahnmeisterei angeklopft. Geöffnet hatte ihm ein britischer Soldat mit feistem Rundkopf, der auf Erwins Bitte, er wolle mit dem Bahnhofsvorsteher sprechen, nur stumm an seiner Zigarette zog. Ein paar Tage nach diesem Vorfall erfuhr er von einem ehemaligen Kollegen, dass die Reichsbahn fest in aliierter Hand sei. Man wolle wohl verhindern, dass die deutsche Wirtschaft wieder zu Kräften komme. Nachdem auch seine Frau ihm mit schmalen Lippen erklärt hatte, sie könne ihn zuhause nicht gebrauchen, machte Kais Vater sich fortan jeden Tag im Morgengrauen auf den langen Weg zum Hafen. Dort saß er in Piet Hennings Kneipe zwischen ehemaligen Werftarbeitern, die der zivile Schiffsbau um Lohn und Arbeit gebracht hatte, und hoffte darauf, dass sich der weite Weg am Ende des Tages gelohnt haben würde. Anders als die übrigen Stammgäste hatte er es nämlich nicht auf Piets Selbstgebrannten abgesehen: Erwin Jensen sammelte Geschichten. Und niemand hatte bessere Geschichten auf Lager als die wettergegerbten Hafenarbeiter in Piet Hennings Kneipe. Die Schwierigkeit bestand nur darin, sie zum Reden zu bringen.
Kais Vater begann seine „Schatzsuche“, wie er es nannte, stets damit, dass er mit seinen seltsam schmalen Fingern auf die Theke trommelte, ein paar Mal schwer seufzte und dann, mehr zu sich selbst als in die Runde, sagte: „Ja ja. Wenn dat man guot geit.“ An manchen Tagen erntete er nichts als Schweigen. An anderen kam es vor, dass ein oder zwei Arbeiter sich schwerfällig erhoben und die Kneipe verließen, was Piet stets mit einem bösen Blick quittierte. Es konnte aber auch passieren, dass plötzlich ein freundschaftlicher Klaps auf seiner Schulter brannte und eine bräunliche Hand einladend zu einer der Fensternischen wies. Dort saß Kais Vater dann stundenlang, bestellte beim alten Piet einen Schnaps nach dem anderen und entlockte seinem wortkargen Gegenüber die Perlen aus zwanzig, dreißig, vierzig Jahren Werftarbeit. An solchen Tagen liefen seine Füße den langen Heimweg fast wie von selbst und er war jedes Mal ein wenig erstaunt, wenn er bei Einbruch der Dunkelheit wieder vor dem Puppenhaus stand.
An einem ungewöhnlich warmen Tag im November 45 trat Erwin den Heimweg mit ausgesprochen schlechter Laune an. Er hatte auf die Theke getrommelt, bis seine Finger schmerzten und vier- oder fünfmal zum Schatzsuchen angesetzt. Doch die Stammgäste der Hafenkneipe waren nicht zum Reden aufgelegt gewesen. Und so hatte der alte Piet, aus Sorge, dass der Geschichtensammler ihm die Kundschaft vertriebe, ihn viel früher vor die Tür gesetzt als üblich. Und das war ein Glück! Denn während Kais Vater auf seinem Fußmarsch wütend kleine Steine in den Straßengraben trat, riss ihn plötzlich ein metallisches Klingeln aus seinen trüben Gedanken. Als er sich nach der Quelle des Geräuschs umblickte, sah er ein altes Fahrrad, das ohne Sattel und mit verdrehtem Lenker im Straßengraben lag. Jeder andere wäre wohl an dem unglücklichen Stück Zeitgeschichte vorbeigelaufen. Aber nicht Erwin Jensen! Kais Vater war ein Mann, der an die Vorsehung glaubte. Und so sah er in dem sattellosen Drahtesel jene Geschichte, auf die er sich schon am Morgen gefreut hatte. Er befreite seinen Fund notdürftig von Moos und grünen Gräsern, die durch die rostigen Speichen gewachsen waren, schulterte das Rad und spürte kaum mehr, wie seine Füße ihn Richtung Puppenhaus trugen. Als er kurz vor der Abendbrotszeit vor dem schäbigen Gartenzaun stand, hinter dem der Rhabarber im Winterschlaf lag, steckte der Plan schon fix und fertig in Erwins Kopf: Er würde seinem Sohn das Fahrrad zu Weihnachten schenken. Und darüber, wie er es gefunden hatte, würde er ihm die beste Geschichte seines Lebens erzählen! Nur musste er das gute Stück erst einmal wieder instand setzen. Darauf hoffen, das Fahrrad im Alleingang zu reparieren, konnte er nicht. Für seine Arbeit als Weichenwärter musste er zwar wissen, in welcher Reihenfolge die Hebel zu bedienen waren und wie man die einzelnen Teile geschmeidig hielt, doch richtige Handwerksarbeit war nie seine Stärke gewesen. Das war aber auch gar nicht nötig, denn dafür gab es andere. Peter Johannsen von der Grenzlandkaserne hatte aus alten Manteltöpfen und ein paar Metern Kupferrohr für alle seine Bekannten erstklassige Schnapsbrenner gebaut und würde ihm sicher gerne zur Hand gehen. Immerhin bekam er, seit alle seine Freunde ihren Schnaps selbst brennen konnten, nur noch selten Besuch. Was den fehlenden Sattel und die kaputten Schläuche betraf, würde Erwin sich mit Knut Olsen in Verbindung setzen. Knut war ein alter Schulkamerad, der vor zehn Jahren mehr schlecht als recht als Tagelöhner durchs Leben gekommen war. Wie sich herausgestellt hatte, war der Krieg das Quentchen Glück gewesen, das Knut immer gefehlt hatte. Innerhalb weniger Jahre war er durch sein Gespür für Gelegenheiten und eine gute Portion Bauernschläue zu einer festen Größe am Flensburger Schwarzmarkt geworden. Auf der Straße hieß es, dass Knut so gut wie alles besorgen konnte. Vorausgesetzt natürlich, man hatte etwas zum Tausch anzubieten. Und das hatte Erwin. Kurz vor der endgültigen Auflösung ihres Regiments hatten er und seine Kameraden nämlich den Auftrag erhalten, sämtliche Reste aus den nächstgelegenen Versorgungslagern abzuholen und zur zentralen Sammelstelle am Hafermarkt zu bringen. Unter den gegebenen Umständen hatten sie es natürlich als angemessen empfunden, eine kleine Aufwandsentschädigung zurückzubehalten. Und so waren am Hafermarkt lediglich ein paar ausgetretene Stiefel und eine Ladung dünner Felddecken angekommen, während Erwin und die Kameraden mit einem kleinen materiellen Vorsprung in ihr altes Leben zurückgekehrt waren. Von Erwins Anteil war inzwischen nur noch eine kleine Kiste mit Stahlnägeln übrig, die er am Tag seiner Heimkehr unter einem losen Dielenbrett in der Stube versteckt hatte. Stahlnägel waren zwar nicht ganz so beliebt wie Lucky Strike, aber auf dem Schwarzmarkt galten sie dennoch als gute Währung. Er lächelte. Seit Monaten hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt. Um seiner Frau keine Gelegenheit zu geben, ihm die Flausen auszutreiben, entschied er sich dafür, seinen wertvollen Fund noch heute zu Peter Johannsen zu bringen. Das bedeutete natürlich, dass er das Abendessen verpassen würde. Aber die dünne Kohlsuppe, die Kais Mutter allabendlich und sauertöpfisch auf den Tisch brachte, hätte Erwins Hunger ohnehin nicht stillen können. Und so brachte er das Rad auf seinen Schultern in eine angenehmere Position und machte sich auf den Weg zur Grenzlandkaserne. Der alte Johannsen fand sowieso selten vor Mitternacht ins Bett. Genau genommen fand er eigentlich gar nicht ins Bett. Irgendwann rutschte ihm einfach der Kopf auf die Schulter und die Flasche aus der Hand und er schlief in seinem Sessel, bis irgendwer kam und ihn weckte.
Irgendwann in den nächsten Tagen fiel dem alten Piet auf, dass niemand mehr versuchte, seine schweigsame Kundschaft zum Reden zu bringen. Der Stuhl, auf dem Bahnwärter Jensen normalerweise saß und mit seinen langen weißen Fingern überaus lästig auf die Theke trommelte, war verwaist. Nun war der alte Piet niemand, der sich für die Affären anderer Leute interessierte. Wenn man ihn fragte, dann wurde ohnehin zu viel geredet. Vor allem redeten die Leute viel zu viel über das, was sie nicht hatten. Piet war in dieser Hinsicht pragmatisch: Was er nicht hatte, brauchte ihn nicht zu interessieren. Und vor dem Krieg waren die Leute schließlich auch nicht zufrieden gewesen. Mit dem Verschwinden von Bahnwärter Jensen hielt er es also ähnlich pragmatisch: Wer nicht hier war, brauchte ihn auch nicht zu interessieren. Als er seinen ehemaligen Stammgast zwei Tage später dann aber in einer der Fensternischen sitzen sah, rutschte ihm die rechte Augenbraue doch ein wenig nach oben. Einen solchen Ausdruck des Erstaunens hatte man beim alten Piet seit gut zehn Jahren nicht mehr gesehen. Es war aber nicht Kais Vater, der den Kneipenwirt so in Aufregung versetzte. Es war die Gesellschaft, in der er sich befand.
Seit seinem glücklichen Fund hatte Erwin keine Zeit mehr gehabt, beim alten Piet Geschichten sammeln zu gehen. Die meisten Tage hatte er putzend und schraubend bei Peter Johannsen verbracht, dessen kleiner Schuppen so durchdringend nach vergorenen Zuckerrüben roch, dass es ihm auf Jahre die Freude an Selbstgebranntem verdarb. Aber das war ein Preis, den Erwin gerne zu zahlen bereit war. Weitaus schwieriger war es gewesen, Knut Olsen ausfindig zu machen. Erwin hatte zwar von verschiedenen Leuten gehört, wo dieser für gewöhnlich anzutreffen war, doch es hatte den Anschein, dass Knut es mittlerweile nicht mehr nötig hatte, seine Geschäfte persönlich abzuwickeln. Also hatte Erwin ihm durch einen seiner Handlanger, einen hageren Jungen mit fleischigen Ohrläppchen, eine Nachricht zukommen lassen. Für ihr Treffen hatte er die Hafenkneipe vorgeschlagen, weil er hoffte, dass ein paar Gläser Schnaps den ehemaligen Schulkameraden in milde Stimmung versetzen würden. Da er nicht sicher gewesen war, ob die Nachricht überhaupt ankommen würde, war er fast ein wenig erstaunt, als er Knut zur verabredeten Zeit an Ort und Stelle vorfand. Erwin zögerte einen Moment. Knut Olsen war kein großer Mann. Aber von seiner untersetzten Gestalt ging etwas aus, das man nur als respekteinflößend bezeichnen konnte. Wie eine fette Spinne thronte er, den einen Arm auf dem Tisch, den anderen auf der Rückenlehne seiner Sitzbank ruhend, in einer der Fensternischen und ließ den Blick träge über die Anwesenden gleiten. Und obgleich sein Gesicht kein sonderliches Interesse verriet, war Erwin sicher, dass ihm nicht das Geringste entging. Unter den Kindern im Ort war Knut Olsen auch als der Mann ohne Hals bekannt, da sein bemerkenswert runder Kopf, auf dem das fuchsrote Haar nur noch sehr spärlich wuchs, mehr oder weniger direkt auf seinem kräftigen Torso saß. Das hatte zur Folge, dass er jedes Mal, wenn er den Kopf drehen wollte, den ganzen Oberkörper mitdrehen musste: ein Bild, das bei jedem anderen sicher zur allgemeinen Belustigung beigetragen hätte. Nicht so bei Knut Olsen. Und Erwin verstand, warum.
Als er Kais Vater entdeckte, verzogen sich Knuts schmale Lippen zu einem breiten Grinsen, das eigenartig kleine, aber ansonsten erstaunlich makellose Zähne freilegte. Als Erwin sich zu ihm an den Tisch setzte, konnte er nicht umhin, sich zu fragen, was Knut wohl dazu bewogen hatte, sich mit ihm zu treffen. Denn an gewinnbringenden Gelegenheiten mangelte es ihm sicher nicht. Aber er war hier und offenbar bereit, zu verhandeln. Und das fasste Kais Vater als gutes Omen auf. Nach der sechsten Runde, die der alte Piet den beiden mit einem sehr ungewöhnlichen Gesichtsausdruck an den Tisch brachte, musste er sich allerdings eingestehen, dass er sich verkalkuliert hatte. Der Schnaps schien Knut Olsen nicht mild, sondern höchstens noch listiger zu stimmen. Ob Erwin denn überhaupt wisse, wieviel solche Schläuche in der momentanen wirtschaftlichen Lage wert wären, hatte er gefragt, und sich genüsslich mit dem kleinen Finger im Ohr gebohrt. Was er denn überhaupt mit so einem Stück Schrott anfangen wolle und ob es nicht gescheiter wäre, die Sache seinem lieben Freund Knut zu überlassen, der bei „gewissen Leuten“ vielleicht noch einen guten Preis dafür rausschlagen könnte. Er redete und redete. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass es ihm Spaß machte, die Sache unnötig kompliziert zu machen. Doch als Kais Vater schon resigniert nach draußen in den Regen starrte und sich fragte, ob sein Sohn überhaupt jemals Fahrrad fahren würde, wurde es plötzlich still. Die wenigen Gespräche, die den Raum erfüllt hatten, waren verstummt. Und manch ein verstohlener Blick huschte zur Theke, wo sich soeben ein neuer Gast niedergelassen hatte. Der Neuankömmling war recht jung, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre. Er war nicht sehr groß, aber kräftig gebaut, mit dreckig blonden Haaren über kleinen blauen Augen, die auf den Grund des Glases vor ihm starrten. Falls er die Blicke der anderen Gäste bemerkt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Hier und da krächzte ein hölzerner Stuhl unter einem Werftarbeiterhinterteil, dessen Besitzer die Kneipe wohl lieber verlassen hätte. Kais Vater runzelte die Stirn. Der junge Mann kam ihm vage bekannt vor. Aber dann fiel ihm plötzlich wieder ein, warum er hier war, und er drehte den Kopf zurück zu Knut. Dieser hatte seit der Ankunft des neuen Gastes kein einziges Wort mehr gesagt. Stattdessen beobachtete er ihn mit einem Ausdruck, der Erwin mehr denn je an eine Spinne auf Beutefang denken ließ: gierig, mit einem selbstzufriedenen Lächeln, das sein Gesicht nicht unbedingt hübscher machte. Und plötzlich dämmerte Erwin, dass Knut heute keineswegs in Piets Kneipe gekommen war, um sich mit einem alten Schulkameraden über Fahrradsattel und neue Schläuche zu unterhalten. Das Feilschen war für ihn lediglich ein Zeitvertreib gewesen. Eine bösartige kleine Spielerei, während er auf ein ganz anderes Geschäft wartete. Während Erwin noch überlegte, wie er die Sache retten konnte, klopfte Knut Olsen zweimal energisch mit den Handknöcheln auf den Tisch und schob sich mit überraschender Wendigkeit aus der Fensternische. Erwin, der ihn nur wortlos anstarrte, versprach er, „sein Junge“ würde die Ersatzteile in den nächsten Tagen bei Peter Johannsen abliefern. Über die Bezahlung würde man sich sicher noch einig werden.
Eine Woche später wusste die gesamte Ortschaft, dass Bahnwärter Jensen Geschäfte mit Knut Olsen machte. Tante Anna erzählte jedem, der es hören wollte, dass der Junge mit den fleischigen Ohrläppchen, der Botengänge für Olsen erledigte, in der alten Grenzlandkaserne ein- und ausging. Wenn Tante Anna eines hasste, dann waren es Taugenichtse. „Das erkennt man schon am Gang, dass der nichts Gutes im Schilde führt“, flüsterte sie laut hinter vorgehaltener Hand. „Wie ein großes Fragezeichen, überhaupt keine Haltung.“ Kais Vater hatte keine einzige Frage gestellt, als Olsens Bursche drei Tage nach ihrer Unterhaltung mit dem Fahrradschlauch und den neuen Speichen bei ihm aufgetaucht war. Der hagere Junge hatte nicht einmal eine Gegenleistung verlangt. Genau genommen hatte er eigentlich gar nicht gesprochen. Erwin hatte die Teile an sich genommen und sich eingeredet, dass Knut seine Schulden wohl vergessen haben musste. Trotzdem wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass er nicht zum letzten Mal von seinem alten Schulkameraden gehört hatte.
Am Abend des 24. Dezember musste Kais Vater sich beim Abendessen besonders tief über die Kohlsuppe beugen, damit sein Sohn seine Aufregung nicht bemerkte. Von dem Fahrrad-Skelett, das er vergangenen Monat im Straßengraben gefunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Peter Johannsen hatte das gute Stück vom Rost befreit, die Pedale ersetzt und den Lenker mit ein paar gut gezielten Hammerschlägen wieder auf Linie gebracht. Einen neuen Gepäckträger hatten sie zwar nicht auftreiben können, aber dafür glänzten zwischen den Schläuchen nagelneue Radspeichen. In den frühen Morgenstunden hatte Erwin selbst den dunklen Ledersattel zweimal eingeölt.
Das fertige Fahrrad, das Kai am Morgen des 25. Dezember in der Guten Stube erwartete, hatte Ähnlichkeit mit jenen Rennrädern der Marke Hercules, die zu Beginn des Jahrhunderts der letzte Schrei gewesen waren. Meine Großmutter erinnert sich daran, dass keines von den Nachbarskindern Erwin überreden konnte, sein Fahrrad zu verleihen. Den ganzen restlichen Winter über hatten sie ihm Springseile und Knallbüchsen angeboten und versucht, ihn mit Pfennigstücken und bunten Murmeln zu bestechen. Aber Erwin hatte alle Angebote ausgeschlagen und war tagein, tagaus die Straße hoch und runter gefahren, während seine viel zu kurzen Beine nutzlos über den Pedalen baumelten.